Verborgene Lust
werde. Die andere, verbreitetere Theorie besagt, dass die junge Frau kurz vor der Eheschließung eine Reihe mysteriöser Riten durchläuft, während parallel dazu Bacchus und Ariadne einen heiligen Bund eingehen. Am Ende begegnen sie Eros, dem Gott der Liebe.
Valentina betrachtet das Bild einer knienden jungen Frau, deren Kopf im Schoß eines Mannes ruht. Ihr Gesäß ist ungeschützt. Daneben steht eine weitere Frau mit einem langen Zweig in der Hand, während eine dritte wild tanzt und dabei ebenfalls ihr üppiges Hinterteil zeigt. Der Hintergrund der Bilder ist dunkelrot, als würde die Farbe den leidenschaftlichen Inhalt der Bilder kommentieren. Rot: die Farbe des Sexes. Valentina überlegt, dass das Fresko vielleicht nicht nur eine frühe Darstellung sadomasochistischer Praktiken ist, sondern auch einer Orgie zwischen drei Frauen und einem Mann. Die bacchischen Riten erfreuten sich im ersten Jahrhundert bei jungen römischen Frauen großer Beliebtheit, vor allem die Praxis der Orgien. Doch auch damals geschah so etwas heimlich, der Ritus galt als pervers. Valentina überlegt, ob etwas dadurch verführerisch wird, dass es verboten ist. Die Gesellschaft brandmarkt Orgien im Allgemeinen als unmoralisch. Valentina hat es nie gereizt, selbst an so etwas teilzunehmen. Ansatzweise hat sie so etwas erlebt, als sie letztes Jahr mit Thomas, Leonardo und Celia zusammen war. Aber das waren zwei Männer, die sie kannte und denen sie vertraute. Sie ist nicht sicher, ob sie an einer Orgie mit Fremden teilnehmen könnte.
Valentina tritt zurück in den Sonnenschein. Nachdem Thomas und sie nun heiraten werden, hat sie kein Interesse daran, mit einem anderen Mann oder einer Frau zu schlafen. Vermutlich sind die Tage ihrer erotischen Studien vorüber. Doch wenn Thomas und sie erst ein paar Jahre zusammen sind, haben sie vielleicht Lust, gemeinsam neue Abenteuer zu erleben, wie Orgien oder Fetischclubs. Erotisches Verlangen unter Menschen hat es immer gegeben. Wann ist Sex nicht mehr nur ein Trieb gewesen, wann ist er in das Reich von Lust und Begehren vorgedrungen?
Valentina geht zurück zu den Ruinen von Pompeji. Hier gibt es keinen Schatten, und die frühsommerliche Sonne verbrennt langsam Valentinas blasses Gesicht. Sie hätte einen Hut mitnehmen sollen. Dies ist ein trauriger Ort, innerhalb von einer Sekunde war das ganze Leben vorbei. Valentina blickt auf die fernen Umrisse des Vesuvs. An einem sonnigen Tag wie heute wirkt er noch dunkler und unheilvoller als sonst. Valentina beschleicht eine düstere Vorahnung. Sie versucht, sie abzuschütteln, doch es gelingt ihr nicht. Sie will keine Wolken am makellosen blauen Himmel ihrer Liebe. In diesem Augenblick beschließt sie, die ganze Vatergeschichte zu vergessen. Sie hat Philip Rembrandt endlich gefunden. Er war mehr ein Vater für sie, als es ihr leiblicher Vater je gewesen ist. Es reicht ihr, dass er bedauert, sie vor all den Jahren verlassen zu haben, und dass er sie jetzt kennenlernen will. Kann sie nicht so tun, als wäre er ihr wirklicher Vater? Das hat ihre Mutter schließlich jahrelang getan. Ist das nicht leicht zu glauben? Valentina ist erleichtert über ihre Entscheidung. Keine Spurensuche in der Vergangenheit mehr, keine Geister. Dennoch hat sie das Gefühl, als würde dieser schwarze Vulkan an ihr ziehen wie ein Hund, der mit seinen scharfen Zähnen nach ihren Fersen schnappt. Sie kann sich nicht von einer dunklen Vorahnung befreien. Vielmehr verstärkt sich das ungute Gefühl, als sie den Zug zurück nach Sorrento besteigt. Es ist, als würde ihr jemand folgen, sie beobachten, doch wenn sie sich umdreht, ist niemand zu sehen.
Maria
Maria will ihre roten Geranien haben. Das ist ihr erster Gedanke, als sie am nächsten Morgen in Viviennes Bett erwacht. Vor ihrem geistigen Auge sieht sie die drei Blumen, die in dem engen Hals der Weinflasche stecken und inzwischen die Farbe von geronnenem Blut angenommen haben. Sie stehen auf dem Fenstersims in ihrem Hotelzimmer und sind Teil ihrer Erinnerung. Sie möchte weder die teuren Kleider noch den Schmuck, den Felix ihr gekauft hat, aber sie möchte diese sterbenden Blumen.
Maria gleitet aus dem Bett und küsst die schlafende Vivienne zärtlich auf die Stirn. Sie zieht sich an und schlüpft ohne einen Kaffee aus der Tür. Eilig läuft sie über die breiten Pariser Boulevards, an deren Rand die grünen Blätter der Platanen glänzen. Es ist Ende August, und endlich ist es etwas kühler geworden. Die Energie der Stadt fühlt
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