Verborgene Lust
sie spürt, dass der Koffer angehoben wird, umklammert sie fest ihren Körper. Wer trägt sie fort? Wohin bringt man sie? Der Koffer schwingt vor und zurück wie eine Wiege. Maria hat nur wenig Platz, und doch ist es bequem, als würde sie perfekt an diesen Ort passen. Das überrascht sie, denn sie hatte immer Angst vor engen Räumen. Jetzt hat sie das Gefühl, dass sie in einem Koffer genau richtig aufgehoben ist. Sie fühlt sich sicher, das Schaukeln wiegt sie in den Schlaf.
Als der Koffer geöffnet wird, schmeckt sie als Erstes Salz auf ihren Lippen. Maria öffnet die Augen und blinzelt ins Tageslicht. Sie blickt in den weiten blauen Himmel und sieht über sich eine Möwe kreisen. Sie hört, wie das Meer ans Ufer brandet, das regelmäßige Rauschen, das nie aufhört. Sie wartet, dass die Flut kommt und sie in ihrem Koffer fortträgt. Maria sieht sich für immer auf dem Meer schaukeln, bis sie von den Fluten verschluckt wird und sich in nichts verwandelt. Die gegen die Felsen schlagende Brandung wird immer lauter, immer drängender, und sie hört eine Stimme:
»Maria!«
Sie öffnet die Augen. Über ihr steht Vivienne und blickt ausnahmsweise mit sehr ernster Miene in den Koffer auf sie hinab.
»Maria, was machst du da drin?«
Sie schüttelt den Kopf. Sie besitzt weder die Kraft noch den Willen zu sprechen. Am liebsten würde sie sich in nichts auflösen.
»Komm schon«, sagt Vivienne, kniet sich neben den Koffer, fasst Marias schlaffe Arme und zieht sie hoch. »Komm heraus. So ist es gut«, sagt sie sanft. »Ziehen wir dir etwas an.«
Vivienne führt sie am Ellenbogen aus dem kleinen Hotel in Saint-Germain-des-Prés. Maria lässt den leeren Koffer zurück, all ihre Kleider und den Schmuck – den ganzen Besitz der Geliebten.
Ihre Freundin führt sie durch das Pariser Straßengewirr in ihre Wohnung im siebzehnten Arrondissement. Maria nimmt das Leben um sich herum nicht wahr. Sie fühlt sich taub, als sei sie innerlich tot.
Kaum haben sie die winzige Wohnung erreicht, läuft Vivienne geschäftig um sie herum. »Hast du etwas gegessen?«, fragt sie.
Maria schüttelt den Kopf, beißt sich auf die Lippe und versucht, nicht erneut in Tränen auszubrechen.
Vivienne stellt Brot und Käse auf den Tisch und schenkt beiden ein Glas Rotwein ein. »Komm, trink das«, sagt sie und reicht Maria das Glas. »Das wird dir guttun.«
Maria trinkt einen Schluck, und es stimmt, der Wein gibt ihr etwas Kraft, aber sie ist noch immer nicht in der Lage zu sprechen. Sie schämt sich.
Als hätte sie ihre Gedanken gelesen, spricht Vivienne zuerst: »Du musst mir nicht sagen, was los ist. René hat es mir erzählt.« Sie sieht Maria nicht an, sondern konzentriert sich darauf, ein Stück Brot abzureißen. »Ich kann nicht glauben, dass Felix diese Frau beschützt«, erregt sich Vivienne leidenschaftlich. »Sie ist Abschaum. All diese Frauen, die mit den deutschen Bastarden geschlafen haben, sind Huren.«
Maria hört die Verachtung in Viviennes Stimme.
»Aber was, wenn einige von diesen Frauen, die ihr als horizontale Kollaborateure bezeichnet, sich in die Deutschen verliebt haben?«, fragt Maria vorsichtig. »Gegen die Liebe ist man machtlos, oder? Abgesehen davon hat Mathilde den Deutschen nicht geliebt, mit dem sie geschlafen hat. Sie hat es getan, um Felix das Leben zu retten.«
»Ich glaube, dass man sich in Kriegszeiten an seine Prinzipien klammern sollte. Man muss Opfer bringen, Maria«, erklärt Vivienne streng. Sie beugt sich vor und streicht Maria zärtlich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. »Du bist sehr jung und glaubst, dass die Liebe dich beherrscht, aber weißt du, wenn das so ist … Nun, dann ist es keine gute Liebe.«
Maria denkt über Viviennes Worte nach. Ihre Liebe zu Felix beherrscht ihr ganzes Leben. Sie hat das Tanzen und Jacqueline aufgegeben, und bis zu einem gewissen Maß hat sie seinetwegen sogar ihre Mamas aufgegeben.
Felix. Einen Augenblick sieht sie sein Gesicht vor sich, als er ihr gesagt hat, dass er sie liebe und sich wieder wie ein junger Mann fühle. Doch das ist er nicht. Er ist ein verheirateter Mann und doppelt so alt wie sie. Dann sieht sie ihn, wie sie ihn in der letzten Nacht gesehen hat: schlafend, in den Armen von Mathilde. Sie erschaudert und schließt die Augen.
»Er hat mich betrogen«, flüstert sie.
»Nein, nein, Liebes«, sagt Vivienne. »Felix liebt dich, da bin ich mir ganz sicher, aber weißt du, er empfindet auch noch etwas für Mathilde.«
»Er hat gesagt, dass er sie
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