Verborgene Lust
Maria.«
Sie übersät ihre Wangen mit Küssen, während Maria über ihre Schulter hinweg in das neugierige Gesicht von Guido blickt.
»Herzlich willkommen, Liebes. Willkommen in London.«
Jacqueline rückt von ihr ab und betrachtet ihren Schützling.
»Ach, du bist ja noch so viel hübscher geworden, seit ich dich das letzte Mal gesehen habe. Ist sie nicht eine Schönheit, Guido?«
Maria spürt, wie sich ihre Wangen dunkelrot färben. Sie richtet den Blick auf den Boden.
»Wirklich, Jacqueline. Ich bin noch immer dieselbe, nur ein bisschen gewachsen.«
»Ja, wie lange ist es her, dass ich dich das letzte Mal gesehen habe? Ein, fast zwei Jahre? Du bist nicht gewachsen. Überhaupt nicht. Aber du hast deinen ganzen Babyspeck verloren. Jetzt siehst du wirklich wie eine Tänzerin aus.«
Jacqueline hat die Hände in die Hüften gestemmt und lächelt zufrieden.
»Ich kann es kaum erwarten, dich Lempert vorzustellen.«
Marias Magen krampft sich zusammen.
»Seit du weg warst, Jacqueline, habe ich keinen richtigen Tanzlehrer mehr gehabt.«
»Das wird er verstehen.« Jacqueline klopft ihr beruhigend auf die Schulter und sagt zuversichtlich: »Er vertraut meinem Urteil.«
»Nun.« Sie wirbelt durch den Raum, sammelt Marias einsame Tasse und Untertasse ein und stellt sie auf das Tablett. »Du musst mir alles von deiner lieben Mutter und Pina erzählen. Wie geht es ihnen? Sie sind sicher traurig, dich gehen zu lassen.«
Maria fühlt sich unwohl in Gegenwart von Guido. Sie will vor diesem Fremden nicht von ihrer Mutter und Pina sprechen.
»Es geht ihnen gut«, sagt Maria. »Sie lassen dich ganz herzlich grüßen.«
Jacqueline nickt fröhlich.
»Weißt du, Guido«, sie wendet sich an den jungen Mann, »ich verdanke Marias Mutter Belle und ihrer Freundin Pina mein Leben. Sie haben mich im Krieg versteckt.«
Mit zusammengekniffenen Augen betrachtet Guido Maria. Er wirkt nicht sehr beeindruckt, sagt jedoch:
»Wie mutig von ihnen.«
»Ja, das war es, aber du müsstest diese Frauen kennenlernen. Sie sind einfach unglaublich.«
Maria ist beschämt. »Sie haben getan, was jeder anständige Mensch getan hätte.«
»Aber es gibt nicht viele anständige Menschen auf der Welt«, hört sie Guido flüstern.
»Nun, Liebes«, sagt Jacqueline und schiebt Maria durch das Wohnzimmer, »ich fürchte, ich habe nicht sehr viel Platz. Deshalb wohnst du im alten Trockenschrank. Es gab nur die Wahl zwischen ihm und dem Wohnzimmer, und da dachte ich, du hättest vielleicht gern etwas Privatsphäre.«
Jacqueline öffnet die kleine Tür zu einem winzigen Zimmer, das ungefähr so lang wie Maria groß ist. Es liegt nur eine mit Laken und Decken bezogene Matratze auf dem Boden. An der Wand hängt ein grob gezimmertes Holzregal, darüber befindet sich eine winzige Dachluke.
»Ich habe keine Gardinen angebracht. Ich dachte, dass du vielleicht gern nachts die Sterne sehen möchtest.«
»Es ist perfekt, Jacqueline«, meint Maria höflich, obwohl sie etwas schockiert über ihr enges Quartier ist. Enge Räume mochte sie noch nie.
»Entschuldigt mich«, sagt Guido laut. »Aber ich muss mich jetzt verabschieden und noch etwas arbeiten.«
»Ja, danke, Guido, dass du Maria für mich unterhalten hast. Möchtest du später mit uns essen?«
»Ich fürchte, nein.« Sein Gesicht drückt aufrichtiges Bedauern aus. »Ich muss noch einen Aufsatz schreiben.«
Kaum sind sie allein, entspannt sich Maria. Warum ist sie in Gesellschaft von Männern immer so angestrengt? Sobald sie nur mit Frauen zusammen ist, fühlt sie sich wohl.
»Wer war der Mann?«, erkundigt Maria sich.
»Guido Rosselli. Hat er sich nicht vorgestellt?«
»Oh, doch, aber er ist Italiener. Ich war überrascht …« Sie verstummt und kommt sich ein bisschen albern vor.
»Er mag etwas seltsam wirken, Maria, aber das kommt bloß daher, weil er einsam ist.«
»Warum geht er nicht nach Mailand zurück?«
»Das kann er momentan nicht. Seine Eltern sind tot. Bis er mit dem Studium fertig ist, ist London jetzt sein Zuhause.« Jacqueline zögert, sie sieht traurig aus. »Er ist Kriegswaise. Wie ich.«
Maria fühlt einen Stich, sie empfindet den Schmerz ihrer Freundin.
»Es tut mir leid, Jacqueline. Ich wollte dich nicht aufregen.«
Aber Jacqueline schüttelt die Trauer von den Schultern, schließt sie erneut in die Arme und bedeckt ihre Wangen noch einmal mit Küssen.
»Ach, ich bin so froh, dich zu sehen«, sagt sie. »Ich habe dich so vermisst.«
Maria schmiegt sich an Jacquelines
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