Verborgene Lust
Hals und atmet ihren Geruch ein, der so viele Erinnerungen in ihr wachruft. An die Zeit, als Jacqueline und sie auf dem Rücken in einem Boot liegend den Canale Grande hinuntertrieben und vor sich hin träumten. Sie unterhielten sich über das Tanzen und wie man sich dabei fühlt. Ja, wenn Maria an jene Zeit zurückdenkt, erinnert sie sich, wie der Tanz sie verändert hat.
Denn dabei fühlte Maria sich frei. Weder der Krieg noch die erdrückende Liebe ihrer Mutter noch das Urteil von Pina oder dass ihr Vater sie verlassen hatte – nichts konnte ihr dann etwas anhaben. Jacqueline hatte ihr diese Gabe geschenkt. Sie hatte ihr erklärt, wenn sie tanze, werde sie zum Vogel.
Als sie mit Jacqueline aneinandergekuschelt auf dem Sofa liegt und sie sich über das Tanzen unterhalten, weiß Maria wieder, weshalb sie nach London gekommen ist. Es geht nicht nur darum, eine Ausbildung zu bekommen, sondern auch darum, ihre Freiheit zu finden.
Valentina
Heute Abend fliegen sie nach London. Zum ersten Mal in ihrem Leben hat Valentina bereits einen Tag vor ihrer Abreise gepackt, und alles ist fertig. Mit einem Becher Kaffee sitzt sie auf dem Fenstersims und sieht zu, wie Mailand sich geschäftig auf einen neuen Tag vorbereitet. Erneut verspürt sie den Drang, ihre Reise nach London zu stornieren und hier in Mailand zu bleiben, um ungestört ihr Leben fortzusetzen. Man kann doch sicher auch ihre Arbeiten ausstellen, ohne dass sie bei der Eröffnung dabei ist? Idealerweise sollte sie an der Vernissage teilnehmen, aber ihre Anwesenheit ist nicht unbedingt erforderlich. Nachdenklich kaut Valentina auf ihrer Lippe. Natürlich muss sie fahren. Sie sollte nicht zulassen, dass Angst vor dem Ungewissen – denn das ist es, was sie empfindet – ihrer Karriere im Weg steht. London ist eine aufregende Chance. Die Stadt ist riesig, und wenn sie Thomas nicht anruft, wird sie ihn auch nicht sehen.
Doch genau davor hat sie Angst. Vor ihrer eigenen Neugier, vor ihrem Bedürfnis, seine Stimme wieder zu hören, herauszufinden, was er macht und ob er über sie hinweg ist. Er hatte behauptet, sie zu lieben, und das nicht nur einmal. Sie konnte nicht dasselbe für ihn tun. Deshalb hatten sie sich getrennt. Weil sie nicht in der Lage war, ihm zu sagen, dass sie ihn liebte.
In Venedig war sie so kurz davor gewesen, sich Thomas zu öffnen. Wenn er doch nur nicht so schnell weggelaufen wäre. Jetzt kommt es ihr vor, als seien ihre Gefühle so tief in ihr vergraben, dass sie nie mehr den Mut aufbringen wird, sie auszudrücken. Und dennoch hat sie sich nicht nur wegen der Ausstellung so schnell für die Londonreise entschieden, sondern auch wegen Thomas. Das muss sie sich selbst eingestehen. Aus irgendeinem merkwürdigen Grund hegt sie noch Hoffnungen, die sie innerlich in Aufruhr versetzen. Sie hat das verrückte Gefühl, dass alles in Ordnung kommt. Valentina trinkt einen Schluck Kaffee. Sie schließt die Hände um den Becher und atmet den Duft ein, das heiße Getränk wirkt beruhigend auf ihre Nerven. Kann sie Thomas zurückgewinnen? Zum ersten Mal lässt sie diesen Gedanken zu. Sie schüttelt den Kopf und erinnert sich an ihr Motto: Nichts hält ewig. Sie muss sich ja nur ihre Eltern ansehen. Deren Verbindung hat auch nicht gehalten, oder? Ihr Vater hat ihre Mutter verlassen, als Valentina ein kleines Mädchen war, und seither hat sie ihn nicht mehr gesehen.
Der Gedanke an ihren Vater lässt in ihr eine unangenehme Erinnerung aufsteigen, die sie stark irritiert hat. Zu der Zeit, als sie mit Thomas in Venedig war, hatte Polizeiinspektor Garelli gesagt, ihr Vater wäre stolz auf sie. Garelli war der erste Mensch, den sie getroffen hatte, der ihren Vater kannte; abgesehen von ihrer Mutter und ihrem Bruder natürlich. Valentina war stets davon überzeugt gewesen, dass sie ihren Vater nicht kennenlernen wollte. Schließlich hatte er nie Anstalten gemacht, Kontakt zu ihr aufzunehmen. Weshalb sollte sie also versuchen, ihn zu finden? Ihre Mutter hatte behauptet, sie wisse nicht, wo er sei, und ebenso ihr Bruder Mattia. So hatte Valentina nicht viel an ihren Vater gedacht, nicht bis zu diesem seltsamen Gespräch, das sie mit Polizeiinspektor Garelli in Venedig geführt hatte. Es war in jener Nacht gewesen, in der Thomas und sie zum letzten Mal zusammen gewesen waren. Der Abend hatte sie stark verwirrt. In ihrer Erinnerung vermischten sich die verrückten Ereignisse: der unheimliche Kunstdieb Glen, der ihr, wie Garelli, im Zug von Mailand nach Venedig
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