Verborgene Lust
Ereignissen des gestrigen Abends beschäftigt. Mehrfach hatte sie ihr Telefon hervorgezogen und überlegt, Thomas anzurufen. Aber was sollte sie sagen? Am Ende musste sie ihn zu ihrer großen Freude gar nicht anrufen, weil er sie anrief. Ob sie Zeit für einen kurzen Kaffee habe? Ob sie zufällig in der Nähe der Tate Britain in Millbank sei? Sie willigte sofort ein. Dabei musste sie mit der Piccadilly Line quer durch London rasen, dann zur Pimlico und schließlich zur Victoria Line wechseln. Sie ist nur ein paar Tage in London und wird sich keine Gelegenheit entgehen lassen, Thomas wiederzusehen. Vielleicht können sie ja Freunde werden? Das versucht sie sich zumindest einzureden. Aber würde sie das glücklich machen?
Valentina bestellt einen Earl Grey Tee und Scones. Sie streicht Himbeermarmelade auf ihren Scone und beißt ein winziges Stück davon ab. Sie ist hungrig, aber so nervös, dass sie kaum etwas hinunterbringt. Erneut blickt sie auf ihre Armbanduhr. Thomas ist fünf Minuten zu spät. Jedes Mal wenn sie an Anita denkt, fühlt sie sich schuldig, aber sie trifft Thomas ja schließlich nur für ein kurzes Gespräch, oder? Außerdem ist es helllichter Tag.
»Valentina?«
Sie springt auf, stößt gegen den kleinen Tisch und wirft ihre Teetasse um, sodass ihr Scone in Tee mit Milch schwimmt. Wie hat er es geschafft, so plötzlich vor ihr zu stehen?
»Keine Sorge«, sagt Thomas lächelnd und sieht sie so liebevoll an, dass ihre Knie weich werden. »Ich besorge dir einen neuen.«
Sie sitzen einander an dem winzigen Cafétisch gegenüber, dabei berühren sich ihre Knie. Valentina konzentriert sich auf sein vergissmeinnichtblaues Hemd. Sie traut sich nicht, ihm in die Augen zu sehen. Noch nicht.
»Und wie geht’s?«, fragt Thomas.
»Gut«, murmelt sie, plötzlich nicht in der Lage, die richtigen Worte zu finden. Sie muss heute Nachmittag offen mit ihm sprechen. Sie darf ihn nicht mit dem Gefühl gehen lassen, sie empfinde nichts mehr für ihn, aber die Worte bleiben ihr im Hals stecken.
»Was macht Mailand? Wie ich höre, triffst du dich noch mit Leonardo. Hast du Spaß?«
Sie hebt den Blick, und der Schmerz in ihren Augen lässt seinen Spott verstummen.
»Valentina?«, fragt er sanft.
»Ja.« Sie beugt sich vor und riecht sein Bulgari. Der Duft erfüllt sie mit Sehnsucht. Sie ist froh, dass er das Rasierwasser nicht gewechselt hat. Er hat zwar eine neue Frau, aber immerhin riecht er noch wie früher.
»Wusstest du von meiner Verbindung mit Anita Chappell, bevor du nach London gekommen bist?« Er wirkt ernsthaft überrascht. »Hast du dich deshalb entschieden, in der Lexington auszustellen?«, will er wissen und mustert ihr Gesicht.
»Ich hatte keine Ahnung von dir und ihr!« Seine Andeutung ärgert sie, sie ist doch kein Stalker. »Ich war völlig fassungslos, dich in der Galerie zu sehen.«
Einen Augenblick betrachtet er sie nachdenklich, nimmt sich einen Löffel Zucker und rührt seinen Tee um.
»Es ist ein unglaublicher Zufall«, bemerkt er. »Es hat mich wirklich umgehauen, dich zu sehen.«
Er ist offen und vollkommen ehrlich. Ihr Herz macht einen kleinen hoffnungsvollen Sprung. Sie bemüht sich, die Fassung zu bewahren. Hatte sie in London nicht eigentlich wieder zu sich finden und Thomas hinter sich lassen wollen? Doch als Leonardo ihr Thomas’ Nummer gegeben hatte, hatte Valentina sie sofort in ihrem Telefon gespeichert. Sie weiß nicht zu sagen, was sie damit in London vorhatte. Jedenfalls hat sie nicht damit gerechnet, Thomas einfach so zu begegnen, und das auch noch so schnell. Sie weiß nur, was sie jetzt in diesem Augenblick empfindet.
»Ich habe dich vermisst, Thomas«, sagt Valentina. Als er sie ansieht, erkennt sie hinter der lächelnden Fassade seine Verletzung. Er fasst sich, beugt sich hinunter und öffnet seine Aktentasche.
»Ich habe dich angerufen, weil ich etwas habe, das dich interessieren dürfte«, erklärt er und geht schnell über ihr Geständnis hinweg.
»Ach«, sagt sie etwas enttäuscht darüber, dass er sie nicht einfach nur angerufen hat, um sie zu sehen.
»Ich bin kürzlich auf einen alten Tanzfilm aus den späten Vierzigern gestoßen. Anita besitzt einen ganzen Haufen Filme von alten Burlesque- und modernen Tanzaufführungen.«
Als er den Namen ihrer Konkurrentin erwähnt, versteift sich Valentina.
»Der Mädchenname deiner Großmutter war Maria Brzezinska, stimmt’s? Und sie war Tänzerin, richtig?«
»Der Name ist richtig, aber sie war keine
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