Verborgene Lust
Tänzerin.«
»Aber sie hätte eine sein können?«
»Vermutlich schon, obwohl meine Mutter mir gegenüber nie so etwas erwähnt hat. Ich glaube, sie hat keine Künstlerkarriere eingeschlagen, sondern ist einfach zu Hause gewesen und hat sich um ihre Familie gekümmert.«
»Hast du deine Großmutter gekannt?«
»Nein, sie ist noch vor meiner Geburt bei einem Flugzeugunglück ums Leben gekommen.« Thomas reicht Valentina eine DVD . Als ihre Hände sich berühren, richten sich Valentinas Nackenhaare auf.
»Das musst du dir ansehen, Valentina. Das ist unglaublich für die damalige Zeit. Ein zeitgenössisches Ballett mit dem Titel Pandora in der Choreografie von Kurt Jooss. Ich glaube, deine Großmutter tanzt die Rolle der Psyche. Die Filmaufnahme ist 1948 in London entstanden.«
Valentina schüttelt den Kopf.
»Ach, das kann nicht sein, Thomas. Sie hat Italien ihr ganzes Leben lang nicht verlassen. Abgesehen von der Reise in die Staaten, von der sie nie zurückgekehrt ist. Wirklich tragisch.«
Wie es wohl für ihre Mutter gewesen ist, ihre Eltern auf so dramatische Weise zu verlieren. Tina Rosselli spricht nur selten von ihren Eltern und nie von ihrem Tod.
»Aber ihr Name taucht in den Anfangstiteln des Films auf«, beharrt Thomas. »Und als ich sie gesehen habe, Valentina, konnte ich, obwohl es sich um sehr altes Schwarzweißmaterial handelt, eine Familienähnlichkeit erkennen. Ich glaube, es könnte wirklich deine Großmutter sein.«
»Das sind mir ein bisschen zu viele Zufälle auf einmal. Erst unsere Begegnung gestern und dann dieser Film. Es ist, als wären wir verbunden«, wagt Valentina sich vor.
»Vielleicht versucht das Schicksal, uns zusammenzubringen?«
Bei seinen Worten keimt in ihrem Herzen neue Hoffnung.
»Meinst du?«
Thomas lacht, was sie ein wenig enttäuscht.
»Ich glaube nicht an Schicksal, Valentina.« Er lehnt sich auf seinem Stuhl zurück und betrachtet sie.
»Die Sache mit dem Tanzfilm ist nicht so ungewöhnlich. Zu jener Zeit wurden kaum moderne Ballette in London gefilmt. Anita besitzt eine umfassende Sammlung alter Tanzfilme. Wenn deine Großmutter Tänzerin war und 1948 gefilmt wurde, ist es sehr wahrscheinlich, dass sich die Aufnahme in Anitas Besitz findet.«
Valentina steckt die DVD in ihre Tasche und wendet den Blick ab. Sie ist unsicher und fühlt sich verletzlich.
»Danke, dass du mich angerufen und mir den Film gegeben hast.« Der formelle Ton ihrer Unterhaltung kommt ihr seltsam vor. »Ich gehe dem nach. Vielleicht hast du recht, obwohl ich es merkwürdig finde, dass meine Mutter mir nie etwas davon erzählt hat, dass ihre Mutter Tänzerin war.«
»Ich bin froh, dass ich sie dir persönlich geben konnte«, antwortet Thomas jetzt etwas freundlicher und liebenswürdiger.
Einen Augenblick schweigen beide. Ihre Teetassen sind leer, aber Valentina möchte sich noch nicht verabschieden.
»Was treibst du in London?«, fragt sie. »Bist du immer noch auf der Jagd nach verlorener Kunst?«
Thomas schüttelt den Kopf, wobei ihm eine dunkle Strähne in die Stirn fällt. Valentina ist kurz versucht, sie ihm aus dem Gesicht zu streichen, beherrscht sich jedoch.
»Damit bin ich fast durch«, erklärt er. »Ich muss nur noch ein Bild zurückgeben, das war’s dann. Zum Glück. Glen macht mich verrückt. Erinnerst du dich an ihn? Das ist der Kunstdieb, dem du in Venedig begegnet bist.«
»Den werde ich wohl nie vergessen.«
»Es tut mir leid, dass er dir Angst gemacht hat, Valentina«, sagt Thomas sanft.
»Du solltest dich vor ihm in Acht nehmen.«
Jedes Mal wenn Valentina an diesen widerlichen Kerl denkt, wird ihr übel. Etwas an ihm hat ihr Angst eingejagt. Dabei lässt sie sich nicht leicht einschüchtern.
»Er ist keine wirkliche Bedrohung, nur nervig«, erwidert Thomas vertrauensvoll. »Bald lasse ich ihn in Ruhe. Dann kann er weiter alten Damen und Herren riesige Summen dafür abknöpfen, dass er ihnen ihre Kunst aus der gestohlenen Nazibeute zurückbringt.«
»Was ist das letzte Bild, das du besorgen musst?«
»Es fällt in dein Gebiet, eine erotische Zeichnung des französischen Künstlers André Masson. Es befindet sich in einer Privatsammlung hier in London.«
»Und ich nehme an, Glen ist hinter demselben Bild her.«
Es fällt Valentina leichter, mit Thomas über die vermissten Bilder zu sprechen. Das Thema ist unverfänglich und nicht mit irgendwelchen Gefühlen belastet.
»Ja, klar. Es hat ursprünglich einem italienischen Juden gehört, Guilio Borghetti. Er
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