Verborgene Lust
fühlte sich Maria leicht wie eine Feder. Sie wusste, dass sie hoch springen konnte, aber an jenem Tag war sie bleischwer und steif, eine Folge des Angriffs in der vorangegangenen Nacht. Joan war in noch schlechterem Zustand als sie. Schweiß lief ihr über das Gesicht und verwischte ihr Make-up.
»Ich fühle mich wie hundert«, flüsterte sie Maria zu.
»Bist du gut nach Hause gekommen?«
»Klar«, erwiderte Joan. »Warum fragst du?«
Maria schüttelte den Kopf. »Das erzähle ich dir später.«
Joan fasste besorgt ihren Arm: »Es ist doch nichts Schlimmes passiert, oder? Bist du in Ordnung?«
Maria nickte. »Mir geht es gut.«
»Das ist nicht der Zeitpunkt zu plaudern, die Damen. Ich will sehen, dass ihr euch bewegt«, drängte Lempert.
»Sklaventreiber«, zischte Joan leise, während sie erneut quer durch das Studio sprang.
Erst nach dem Unterricht konnten sie richtig miteinander sprechen. Weil es ein so schöner Tag war, schlug Joan vor, zu Fuß zu gehen, anstatt den Bus zu nehmen. Während sie die Kennington Road hinuntergingen, öffnete Joan ihre Tasche und schwang in der Hand triumphierend eine Dose Büchsenmilch.
»Willst du was?«, fragte sie Maria. »Ich bin vorbereitet.«
Sie holte einen Büchsenöffner aus der Tasche, durchbohrte den Deckel und reichte die Dose zuerst Maria, die einen Schluck nahm. Die Milch war warm und süß und gab Maria Energie. Während sie weitergingen, erzählte Joan alles von Ralph und wie viel Spaß sie gehabt hatten.
»Ich habe ihn mit in mein Apartment genommen. Meine Vermieterin ist sowieso eine verschlafene Kuh.« Sie grinste Maria frech zu. »Ach, es war einfach herrlich. Es hat mir wirklich geholfen, Stan zu vergessen.«
»Hast du mit ihm geschlafen?« Maria blickte voller Ehrfurcht zu ihrer Freundin.
Joan legte den Kopf schief. »Bist du schockiert? Findest du mich billig?«
»Nein, aber du kennst ihn kaum.«
»Ach, ich wusste genug über ihn«, antwortete sie fröhlich. »Ich wusste, dass man mit ihm Spaß haben kann, nichts Ernstes. Und das war mir gerade recht.«
»Willst du denn nicht jemand Besonderes kennenlernen?«, fragte Maria.
»Doch, natürlich«, antwortete Joan. »Aber bis dahin werde ich nicht wie eine Nonne leben!«
Sie kamen an der Lambeth North Station vorbei und bogen in die Westminster Bridge Road ab.
»Und bei dir? Douglas ist aufgesprungen und hinter dir hergelaufen, als du gegangen bist. Er schien ziemlich scharf auf dich zu sein.«
Maria blieb stehen und schloss fest die Augen. Sie wollte sich nicht an diesen widerlichen Kerl erinnern und an das, was er ihr antun wollte, doch so hatte sie Felix kennengelernt.
»Was ist los? Mein Gott, Maria, du bist weiß wie ein Gespenst«, sagte Joan, und das Lächeln auf ihrem Gesicht erstarb. »Was ist passiert?«
Maria öffnete die Augen, sah starr geradeaus und ging weiter.
»Er hat mich angegriffen, Joan.«
»Was! Oh mein Gott. Hat er dir wehgetan?«
»Nein, jemand ist mir zu Hilfe gekommen, bevor …« Maria konnte es nicht aussprechen.
»Wer? Was ist passiert? Oh, Maria, es tut mir so leid. Ich hätte mit dir nach Hause gehen sollen.« Joan rang die Hände und sah zerknirscht aus. »Ich kannte ihn überhaupt nicht. Ich glaube, er ist noch nicht einmal ein Freund von Ralph. Er saß nur mit ihm an einem Tisch.«
»Mir geht es gut, es ist okay. Er hat mich nicht verletzt.«
»Wenn ich ihn je wiedersehe …« Joans Wangen waren vor Wut gerötet, aber Maria unterbrach sie.
»Es hat mich jemand gerettet.«
Bei dem Gedanken an das, was als Nächstes geschehen war, erfasste sie Aufregung. Felix Leduc war im richtigen Moment aufgetaucht und hatte sie erlöst.
»Wer?«
»Dieser Mann, dieser schöne Mann.«
Joans besorgte Miene wich einem Lächeln.
»Ein echter Ritter in glänzender Rüstung?«
»Ja. Und Joan, es ist einfach unglaublich, er wohnt in unserem Haus. Er ist mein Nachbar!«
»Nun, wer ist er? Erzähl. Spuck es aus!«
»Ich weiß nicht viel von ihm, nur, dass er Franzose ist. Er heißt Felix Leduc und wohnt im zweiten Stock, in der Wohnung direkt unter uns.«
»Wie romantisch«, seufzte Joan. »Er hört also, wie du über seinem Kopf herumläufst. Er stellt sich dich in einem kleinen weißen unschuldigen Nachthemd vor.«
Maria errötete.
»Ach, hör auf, Joan!« Sie drückte die Tasche an ihre Brust. Sie wollte ihre Vorstellung von Felix nicht beschmutzen. »Ich habe noch nie einen solchen Mann gesehen. Ich glaube, ich habe mich auf der Stelle in ihn verliebt.«
Joan
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