Verborgene Lust
eine Sommerhochzeit und ewiges Glück.
Es ist Hochsommer, und in London wird es langsam warm. Nicht annähernd so heiß wie in Venedig, nichtsdestotrotz schneidert Maria sich zwei Sommerkleider aus Stoff, den ihre Mutter aus Italien geschickt hat. Jacqueline und sie haben in Harpers Bazaar die Bilder von Christian Diors neuer Kollektion studiert. Kleidung ist in London noch immer rationiert, und so rührte sie das Paket ihrer Mutter zu Tränen; als habe man ihnen die Kronjuwelen geschickt. Wo um alles in der Welt hatte Belle so schöne Stoffe gefunden? Maria ist eine begabte Schneiderin, Pina hat es ihr beigebracht, als sie ein kleines Mädchen war. So verspricht Maria Jacqueline, dass sie beide vor Ende des Sommers wie zwei Damen aus der Dior-Kollektion aussehen werden. Wie gut Belle den Teint ihrer Tochter kennt. Belle weiß, dass ihr zu den dunklen Locken, der blassen Haut und den blauen Augen kräftige Farben am besten stehen. Und so hat Maria zwei Kleider für sich genäht, die anders als die pastellfarbenen der anderen Mädchen in intensiven Farben leuchten. Eines ist rubinrot mit einem weiten Rock à la Dior, das andere etwas mädchenhafter, kobaltblau mit kleinen rosa Blüten. Auf der Rückseite hat es eine Falte, die ihren Po betont, und eine Bolerojacke bringt ihre Taille zur Geltung. Mit federndem Gang trägt Maria ihre neuen Kleider spazieren und erkennt an den bewundernden Blicken der Londoner, dass sie ihr gut stehen. Ihr Englisch hat sich enorm verbessert, und langsam hat sie tatsächlich das Gefühl, hierher zu passen. In London leben so viele unterschiedliche Nationalitäten, so viele Kriegsflüchtlinge, die alle ihre eigene Leidensgeschichte haben. Jetzt, da die Olympischen Spiele vor der Tür stehen, herrscht eine feierliche Atmosphäre in der Stadt, man ist aufgeregt und stolz.
In der Tanzschule wird unaufhörlich Pandora geprobt. Heute ist Joan im Unterricht schluchzend auf dem Boden des Studios zusammengebrochen, nachdem Lempert sie dieselbe Abfolge gefühlte einhundertmal wiederholen ließ. Maria ist froh, zu den Begleittänzern zu gehören. Einem solchen Druck würde sie im Moment nicht standhalten. Lempert ist zwar ein strenger Lehrer, schafft es jedoch, das Beste aus seinen Schülern herauszuholen. Die Tänzer arbeiten hart, wollen glänzen und in seinem Stück ihr wahres Können zeigen.
Inzwischen ist es Monate her, dass Felix Maria gerettet hat, er ist für sie zu einer Fantasiegestalt geworden. Sie hat die Hoffnung aufgegeben, ihn jemals wiederzusehen. Es ist Freitag, und die Mädchen packen nach dem Unterricht in Aktzeichnen ihre Tanzsachen zusammen. Joan nimmt Marias Zeichenblock und blättert ihn durch.
»Ach, die sind fantastisch, Maria, du kannst die einzelnen Haltungen wirklich gut einfangen.«
»Um ehrlich zu sein, Joan, verstehe ich nicht, warum wir als Tänzer überhaupt Aktzeichnen lernen.«
»Es geht darum, den Körper zu studieren. Eine andere Tänzerin in einer Pose zu betrachten und die Linie in ihr zu erkennen«, erklärt Joan. »Hast du Lempert nicht zugehört, als er das erklärt hat?«
»Doch, natürlich, ich würde nur lieber tanzen.«
Die Umkleide hat sich geleert, nur Joan und Maria sind noch da. Maria bemerkt, dass ihre Freundin ihr schwarzes Trikot und ihre Strumpfhosen anbehält. »Kommst du nicht mit?«
Joan seufzt. »Nein. Ich muss noch mit Louis proben.«
In den letzten Wochen haben Louis und Joan in den Abendstunden ständig an ihrem gemeinsamen Auftritt gearbeitet.
»Na gut, übertreib es nicht.« Maria überprüft ihr Aussehen im Spiegel der Puderdose. »Bis Montag.«
Als sie schon einige Straßen entfernt ist und in einem Geschäft Zigaretten kaufen will, bemerkt sie, dass sie ihre Geldbörse auf der Bank in der Mädchenumkleide vergessen hat. Sie vermutet, dass die Tür offen ist, da Joan und Louis noch im Studio trainieren. Sie braucht ihr Geld. Die Börse enthält ihren gesamten Unterhalt für diesen Monat sowie ihre Lebensmittelkarten.
Maria läuft eilig die Straße zurück. Sie trägt ihr blaues Kleid mit den rosa Blumen, in dem sie sich zart wie eine orientalische Blüte fühlt.
Wie erwartet ist die Eingangstür zur Tanzschule unverschlossen. Maria stößt sie auf und schleicht, so leise wie möglich, den Flur hinunter. Sie will Lempert nicht begegnen und auch nicht Joan und Louis stören. Alle Mädchen vergöttern Louis. Er kommt aus der Karibik und hat wunderschöne Haut. Am liebsten würde Maria ihn dauernd anfassen. Er ist anders
Weitere Kostenlose Bücher