Verborgene Lust
gebaut als weiße Männer: ein großer Kerl. Wenn er tanzt, kann man sich seinem Zauber kaum entziehen, seine Energie ist überwältigend. Joan war nervös wegen ihres Auftritts mit ihm. Anscheinend gehört er zu den wenigen Männern, in deren Gegenwart sie schweigt. Doch Maria hat den Eindruck, dass sie gut miteinander auskommen. Wenn sie zusammen tanzen, sieht es jedenfalls beeindruckend aus.
Maria eilt den Flur hinunter und blickt auf ihre Armbanduhr. Sie hat Jacqueline versprochen, zum Metzger zu gehen und sich in der Schlange für Kutteln anzustellen, bevor es zu spät ist. Sie hofft, dass ihr Kleid den Metzger dazu animiert, ihnen vielleicht etwas anderes als Kutteln zu geben, etwa ein mageres Kotelett oder zwei. Als sie sich dem Studio nähert, wundert sie sich, dass sie den Pianisten nicht hört. Ist er vielleicht schon nach Hause gegangen? Als sie an der Tür vorbeikommt, vernimmt sie ein merkwürdiges Geräusch. Sie kann es nicht identifizieren und stößt, ohne nachzudenken, die Tür auf. Das Studio ist leer. Doch noch immer hört sie dasselbe Geräusch, es klingt wie ein Schrei oder mehr wie ein Jaulen. Es kommt von der Galerie über dem Klavier. Sie schlüpft aus den Schuhen und schleicht auf Zehenspitzen über den Holzboden. Sie denkt nicht darüber nach, was sie hört, sie ist einfach nur neugierig. Vielleicht ist eine Katze im Studio eingesperrt und will hinaus. Sie steigt die Treppen hinauf und späht um die Ecke. Bei dem Anblick bleibt ihr der Mund offen stehen.
Ihre Freundin Joan liegt auf dem Tisch, um den sie vor nicht einmal einer Stunde noch gesessen und gezeichnet haben. Das Gesicht hat sie Maria zugewandt, sie kann sie jedoch nicht sehen, da ihre Augen mit schwarzen Tanzstrumpfhosen verbunden sind. Ihre nackten Beine ragen in die Luft. Mit dem Rücken zu Maria steht Louis und presst sich gegen Joan. Beide sind nackt. Joans Haut schimmert cremeweiß neben Louis’ dunklem Teint. Maria kann den Blick nicht von Louis abwenden. Sie hat seinen Körper jeden Tag im Trikot gesehen, aber der Anblick seines nackten, sich bewegenden Gesäßes ist etwas anderes. Auf seinen Schultern ruht je einer von Joans kleinen Füßen, er hat Joan ganz nach vorn an die Tischkante herangezogen und stößt immer wieder zu. Das Jaulen stammt von Joan. Maria schlägt erschrocken eine Hand vor den Mund. Das ist er also: der sexuelle Akt. Sie hat natürlich Bilder davon gesehen. Und sie hat es sich ausgemalt, aber nie so. Nie so ursprünglich, so rau, so archaisch. Sie betrachtet Louis’ Hinterkopf und hört sein Keuchen, während er immer fester zustößt. Was soll sie tun? Soll sie die beiden unterbrechen? Weglaufen? Maria tut weder das eine noch das andere. Sie hockt sich auf die oberste Treppenstufe und sieht zu. Sie ist eine achtzehn Jahre alte Jungfrau, die in einen Fantasiemann verliebt ist, und sie will wissen, wie dieser Akt ist, von dem Joan die ganze Zeit erzählt. Sie will sehen, was daran so toll ist. Sie empfindet widersprüchliche Gefühle: Schock, Verwunderung, Abscheu und noch stärker als alles andere: ein Pochen zwischen ihren Beinen. Ihre Glieder fühlen sich wackelig an, und tief in sich spürt sie ein heftiges Pulsieren.
Louis steigert den Rhythmus, der Akt wird wilder. Es ist ein Tanz, der erste Tanz überhaupt, denkt Maria, während sie zusieht, wie er beim letzten Stoß aufschreit und dann auf der nackten Brust ihrer Freundin zusammenbricht. Maria duckt sich schnell und schleicht die Stufen hinunter. Joan darf nie erfahren, dass sie das gesehen hat. Sie schlüpft aus dem Studio, läuft zur Umkleide und nimmt rasch ihre Börse, die unter die Bank gefallen ist. Es wäre eine Katastrophe, wenn sie Joan jetzt in die Arme liefe.
Wieder im Freien hastet Maria die Kennington Road hinunter. Alles sieht wie immer aus. Es ist ein ganz normaler sonniger Nachmittag in London. Während Maria davoneilt, streichelt das Sonnenlicht ihr Gesicht. Sie atmet heftig und spürt, dass sie unter ihren Kleidern feucht ist. Offenbar ist ihr ein ganzes Universum verschlossen. Haben Ehemänner und Ehefrauen auf diese Weise Sex? Oder ist das nur etwas für Liebespaare, für heimliche Geliebte?
Im Nachhinein hatte Maria das Gefühl, dass dieses Erlebnis ihren Prinzessinnentraum zerstört, ihr Schicksal beeinflusst hat. Sie ist überzeugt, dass er ihr nicht zufällig an jenem Tag entgegenkam, als sie gerade mit den Kutteln in der Hand um die Ecke bog, deren starker blutiger Geruch sich mit dem Duft der Rosen in den
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