Verborgene Lust
Sechzigerjahre.«
Anita hängt sich an Thomas’ Arm. Am liebsten würde Valentina sie von ihm wegstoßen.
»Wie gefällt dir die Ausstellung?«, fragt Anita.
»Nun, sie scheint ziemlich gut zu laufen«, stellt Valentina fest und deutet auf die überfüllte Galerie.
»Ach, diese Veranstaltungen sind immer gut besucht«, meint Anita, »vor allem bei diesem Thema. Und es sind ein paar bekannte Namen dabei. Wir hängen neben großen Künstlern!«
»Deine Arbeiten sehen gut aus«, schaltet Thomas sich ein.
»Danke.« Valentina kann ihm nicht in die Augen sehen. Er wird darin sofort ihr nacktes Verlangen erkennen, und das wäre demütigend.
»Wie hat dir meine Videoinstallation Der Beginn der O. gefallen?«, will Anita wissen.
»Das alte Filmmaterial fand ich gut«, antwortet Valentina und verkneift sich einen Kommentar zum Rest des Werks.
»Das Material stammt von einem Mann, der in den späten Vierzigerjahren einige der stärksten erotischen Filme gedreht hat«, erzählt Anita begeistert. »Felix Leduc – ein Franzose. Er hat auch abstraktes surrealistisches Zeug gedreht.«
»Ich habe noch nie zuvor von ihm gehört.«
»Er zählte zum Kreis der Pariser Existenzialisten um Sartre, Beauvoir und Boris Vian. Später hat er auch Pauline Réage kennengelernt«, erklärt Thomas.
»Pauline Réage, die Autorin von Die Geschichte der O. ?«
»Ja, das Buch hat mich inspiriert«, bemerkt Anita. »Mein Großvater hat in den Fünfziger- und Sechzigerjahren in London mit erotischer Kunst und Literatur gehandelt. Irgendwie ist er an Leducs Material gelangt. Nach seinem Tod habe ich seine Sammlung geerbt. Ich habe das Material in einem Schuhkarton entdeckt und konnte es kaum fassen, als ich es sah.«
»Es ist ziemlich bemerkenswert, oder?«, fragt Thomas.
Doch Valentina erinnert sich plötzlich an einen Teil des Off-Textes aus dem Film: »Der Beginn der O. setzt ein, als ihr Körper zum Boten ihrer Seele wird.« Valentina kann ihren Körper für sich sprechen lassen, doch anscheinend ist das nicht genug. Nun ist klar, dass Stimme und Text in dem Film von Anita stammen. Empfindet Anita so für Thomas?
»Hast du Die Geschichte der O. gelesen?«, erkundigt sich Anita bei Valentina.
»Natürlich hat sie das«, antwortet Thomas, bevor Valentina etwas sagen kann. Er sieht ihr in die Augen, und sie weiß, dass er daran denkt, wie sie zusammen auf dem Bett gelegen und die Geschichte gemeinsam gelesen haben, die sie teilweise erregt, teilweise aber auch verwirrt hat. Keine Frau sollte sich in dem Maße unterwerfen.
»Wie war das noch mit der Autorin?«, fragt Valentina und versucht, nicht auf Anita zu achten, die noch immer an Thomas’ Arm hängt.
»Die Autorin war eine französische Gelehrte, die unter verschiedenen Pseudonymen veröffentlich hat: Anne Declos, Dominique Aury, Pauline Réage. Sie hat ihre Identität bis ins hohe Alter geheim gehalten«, erklärt Thomas.
Valentina liebt diesen Gesichtsausdruck bei ihm: der Gebildete, der andere an seinem Wissen teilhaben lässt.
»Als Die Geschichte der O. herauskam, glaubte man zunächst, dass ein Mann das Buch geschrieben habe«, fährt er fort.
»Aber Pauline Réage hat es als Provokation für ihren Geliebten geschrieben, stimmt’s?«, ergänzt Valentina, die sich nun wieder an die Geschichte erinnert. »Er hat ihr gegenüber behauptet, Frauen könnten keine erotische Literatur schreiben. Sie wollte ihm beweisen, dass er unrecht hat.«
»Und wie hat es dir gefallen?«, will Anita ernsthaft interessiert wissen.
»Es ist ein seltsames Buch.« Valentina überlegt. »Ich meine, der Inhalt ist ziemlich verwirrend, sogar anstößig, und doch hat es etwas unglaublich Erotisches. Ich kann es nicht erklären.«
»Vielleicht fühlte sie sich völlig frei, weil sie sich vorstellte, dass es etwas rein Privates zwischen ihr und ihrem Geliebten war«, überlegt Thomas.
»Aber sie hat zugelassen, dass es veröffentlicht wird und es die Massen lesen«, bemerkt Anita. »In gewisser Weise wollte sie offenbar provozieren.«
Die drei stehen in einem Dreieck zusammen. Valentina steht dem Paar gegenüber: Thomas und Anita. Doch Valentina kommt es vor, als könne man die Verbindung zwischen ihr und Thomas förmlich sehen, als seien sie durch ein Seil miteinander verbunden. Sie starren sich an und können den Blick nicht voneinander lösen. Als spürte Anita die Chemie zwischen ihnen, lässt sie Thomas’ Arm los, macht einen Schritt auf Valentina zu und versperrt ihr so die Sicht auf
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