Verborgene Lust
Unwetter stirbt.
Auf dem Rückweg zum Hotel spürt Maria noch immer ein Kribbeln am ganzen Körper. Ganz plötzlich hört der Regen auf. Die Sonne kommt hervor und kitzelt Marias Haut. Das Regenwasser verdampft, und die nassen Trottoirs sind im Nu getrocknet. Das Unwetter hat die Stadt gereinigt. Fast verströmt sie einen süßen Duft. Arm in Arm gehen Felix und Maria in ihren nassen Kleidern, die langsam trocknen und ganz zerknittert sind, zurück. Marias Beine genießen es, ohne Strümpfe zu sein. Es ist ihr egal, wie sie aussieht. Die, die in diesem Viertel leben, interessiert es auch nicht. Am Ende der schmalen Kopfsteinpflasterstraße kommen sie an einem offen stehenden Tor vorbei. Dahinter entdeckt Maria einen kleinen Hinterhof mit Kübeln voll roter Geranien – ein Farbtupfer in all dem Grau. Zu ihrer Freude zieht Felix sie durch die offene Tür zu den Blumen. Er blickt sich verstohlen um und beugt sich hinunter, dann pflückt er drei Geranien und überreicht sie Maria.
»Oh, die sind wunderschön«, flüstert sie.
»Komm, bevor man uns erwischt«, erwidert er, nimmt wieder ihre Hand und zieht sie mit sich aus dem Hof.
Als sie zurück im Hotelzimmer sind, füllt Maria Wasser in eine leere Weinflasche und steckt die Geranien hinein. Stolz platziert sie das Arrangement auf dem Fenstersims.
Felix beobachtet sie amüsiert. »Die sind doch nichts Besonderes«, sagt er.
»Oh, doch«, widerspricht sie. »Mir hat noch niemand Blumen geschenkt.«
Er geht zu ihr, küsst sie auf die Stirn, nimmt ihre Hand und legt sie auf sein Herz. »Mit dir fühle ich mich wieder jung«, sagt er.
Maria errötet vor Freude und lächelt ihn schüchtern an. Felix hat recht. Er sieht jünger aus – oder wirkt er nur weniger besorgt? In London hatte er so ernst ausgesehen, aber hier, in ihrem Pariser Unterschlupf, besitzt er einen jungenhaften Charme. Sein Kummer von neulich Nacht hat sich in Luft aufgelöst. Vielleicht hat Maria doch nur geträumt, dass er geweint hat. Aber sie hat seine nassen Wangen gespürt. Am nächsten Morgen hat sie nichts dazu gesagt, und jetzt will sie Felix auf keinen Fall an etwas erinnern, das ihn traurig stimmt.
»Lass uns heute Abend ausgehen«, sagt Felix plötzlich. »Wir könnten im Le Petit Saint Benoit essen.«
»Wirklich?«, fragt sie widerwillig. »Ich würde lieber hierbleiben.«
»Irgendwann müssen wir etwas anderes als nur Brot und Käse essen, Liebes, sonst bekommen wir noch Skorbut. Außerdem möchte ich, dass du ein paar von meinen Freunden kennenlernst.«
Bei dem Gedanken an andere Leute fühlt sich Maria unbehaglich. Sie möchte mit Felix allein sein, ihn exklusiv für sich haben. »Vielleicht sollte ich hierbleiben«, antwortet sie zögernd.
»Auf keinen Fall. Warum?«
Sie überzeugt sich davon, dass es gut ist, wenn Felix sie seinen Freunden vorstellen möchte. Ist das nicht der erste Schritt zur Verlobung? Sie ist auf dem Weg, für immer Teil seines Lebens zu werden. Wen werden sie wohl treffen, und wie viel wissen die anderen von Felix? Obwohl sie die Woche über unzertrennlich waren, weiß Maria nicht mehr über Felix’ Vergangenheit als zu dem Zeitpunkt, als sie in Boulogne von Bord gegangen sind.
Maria steht am offenen Fenster und sieht zu, wie die Sonne hinter den Dächern untergeht. Dabei spielt sie mit einer der roten Geranien und spürt ihre samtenen Blütenblätter. Von dem Regenguss ist nichts mehr zu sehen. Die Stadt ist wieder genauso verdorrt und ausgetrocknet wie zuvor. Die Hitze schlägt ihr ins Gesicht und lässt ihre Hände feucht werden. Maria will nicht ausgehen, nicht nur weil ihr unangenehm heiß ist. Etwas sagt ihr, dass der Zauber ihres Liebesnestes schwer wiederherzustellen sein wird, sobald sie ihn einmal gebrochen haben. Dann ist der siebte Himmel vorbei.
Valentina
Je länger Valentina Anita betrachtet, die sich wie sie zurechtgemacht hat, desto weniger sieht sie aus wie sie. In dem Bridget-Riley-Kleid gleicht sie vielmehr ihrer Mutter. Mit der perfekt geschnittenen schwarzen Perücke und den stark geschminkten Augen erinnert sie zudem eher an eine Comicfigur als an eine echte Frau. Dennoch ist Valentina beunruhigt.
»Wie findest du es?«, fragt Anita grinsend. »Ich wollte deiner Mutter meine Verehrung erweisen.« Sie dreht sich in ihrem schwarzweißen Kleid einmal um die eigene Achse. »Ich bewundere ihre Arbeit«, sagt sie. »Meiner Meinung nach steht sie auf einer Stufe mit David Bailey und den anderen großen Modefotografen der
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