Verborgene Lust
Thomas.
»Bist du mit jemandem hier?«, fragt sie mit warnender Miene.
»Mit Antonella und ihrer Tante, aber offenbar habe ich sie in der Menge verloren.«
Genau in dem Augenblick entdeckt Valentina Antonella am anderen Ende der Galerie. Überraschenderweise steht sie dort Arm in Arm mit ihrem russischen Liebhaber Mikhail, den Valentina in Mailand wähnte. Antonella sieht sie ebenfalls, winkt ihr kurz zu und zieht Mikhail mit sich durch die Menge zu ihnen.
»Hallo, Mikhail«, sagt Valentina und küsst den zarten Russen auf beide Wangen. »Was machst du hier?«
»Er behauptet, er sei gekommen, um sich in der Ausstellung auf deinen Bildern zu sehen, aber ich weiß, dass er eigentlich nur mich sehen wollte«, antwortet Antonella an seiner Stelle und wirkt überaus zufrieden. Als sie Thomas bemerkt, versteift sie sich. »Hallo, Thomas«, grüßt sie ihn kühl. »Was machst du denn hier?«
»Guten Abend, Antonella.« Thomas küsst sie höflich auf die Wange. »Ich bin mit Anita Chappell hier. Sie ist auch eine der Künstlerinnen.«
»Und seine Freundin«, ergänzt Anita überschwänglich.
Freundin . Das Wort trifft Valentina wie ein Messerstich. Thomas hat nichts dagegen, dass Anita sich als seine Freundin bezeichnet. Ob sie auch schon seine Eltern kennengelernt hat?
Inzwischen mustert Antonella Anita von Kopf bis Fuß und bemerkt das Bridget-Riley-Kleid sowie die schwarze Perücke. Sie wendet sich an Thomas: »Nun, sieht aus, als hättest du dich für die Kopie entschieden, weil du das Original nicht haben kannst.«
Valentina zuckt vor Scham zusammen. Manchmal ist Antonellas Direktheit geradezu unverschämt. Doch Anita ist anscheinend völlig ungerührt. Entweder ist sie dumm, oder sie hat ein dickes Fell.
»Ja klar, ich weiß natürlich, dass ich nicht so gut aussehe wie Valentina, vor allem in diesem fantastischen Kleid«, schwärmt sie. »Ich eifere nur ihrer Mutter nach. Tina Rosselli. Sie hat mich zu einer neuen Nummer inspiriert.«
Valentina ist schockiert.
»Anita ist eine Burlesque-Tänzerin«, erklärt Thomas Antonella.
»Oh, cool.« Langsam taut Antonella ein bisschen auf. Valentina weiß, dass Antonella insgeheim von einem Auftritt als Burlesque-Tänzerin träumt.
Valentina wendet den Blick ab, ihr ist ein wenig übel. Sie kann sich nichts Schrecklicheres vorstellen als eine Burlesque-Vorstellung, die an ihre Mutter erinnert. Sie starrt auf den weißen Boden der Galerie und schluckt ihre Enttäuschung hinunter. Dieser Abend ist eine Katastrophe. Erst die Bedrängung durch Francesco, auf die sie so übertrieben verärgert und gemein reagiert hat. Und jetzt muss sie Anita und Thomas als Paar erleben. Ist das ihr Karma? Über all dem hat Valentina sich überhaupt nicht darum gekümmert, Kontakte zu knüpfen und ihre Arbeiten zu verkaufen. Ist sie deshalb nicht eigentlich nach London gekommen? Aber sie kann nichts dafür. Sie kann einfach nicht den Blick von Thomas wenden. Und obwohl Anita ständig an ihm hängt, bemerkt sie, dass er nur Augen für Valentina hat. Warum ist er dann mit Anita zusammen? Valentina versteht das alles nicht. Sie wünschte, sie könnte flüchten. Sie bräuchte einen Retter, der sie entführt. Doch der Mann, von dem sie gerettet werden will, ist genau die Person, die sie anscheinend nicht haben kann. Sie blendet das Gerede der anderen aus und lässt den Blick über die Menge gleiten. Sie sieht einen Typ, der sie an Leonardo erinnert: Er hat einen olivfarbenen Teint und dichte schwarze Haare. Sie sind allerdings nicht ganz so lang wie bei Leonardo. Der Mann blickt auf. Offensichtlich sucht er nach jemandem. Zu ihrer Überraschung stellt Valentina fest, dass es sich tatsächlich um Leonardo handelt, der sich die Haare geschnitten hat. Sie blinzelt und sieht noch einmal zu ihm. Das ist doch nicht möglich. Erst heute Morgen haben sie noch miteinander telefoniert. Wie kann er jetzt hier sein? Sie freut sich, ihn zu sehen.
»Leonardo«, ruft sie und winkt.
»Das wollte ich dir noch sagen«, meldet sich Antonella, »Leonardo und Mikhail sind zusammen gekommen. Wir haben uns getrennt, um nach dir zu suchen.«
»Leonardo!«
Als er sie sieht und hört, erscheint ein breites Grinsen auf seinem Gesicht. Er bahnt sich einen Weg zu ihnen. Wie immer sieht er elegant aus. Er trägt ein kastanienbraunes Hemd, und seine schwarzen Haare glänzen wie das Federkleid einer Krähe.
Valentina fällt ihm um den Hals. Das ist eigentlich nicht ihre Art, aber sie ist so glücklich, Leonardo zu
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