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Verborgene Muster

Titel: Verborgene Muster Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ian Rankin
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ließen ihre Töchter entweder gar nicht
mehr zur Schule gehen oder nur unter starkem Geleitschutz auf dem hin- und Rückweg, und
erkundigten sich dann noch einmal um die Mittagszeit nach ihrem Wohlergehen. In der
Kinderbuchabteilung der Zentralbibliothek herrschte in letzter Zeit beinahe Totenstille, sodass
die Bibliothekare dort kaum etwas zu tun hatten, außer übers Hängen zu reden und die reißerischen
Spekulationen in der britischen Presse zu verschlingen.
Die britische Presse hatte inzwischen ausgebuddelt, dass Edinburgh alles andere als eine vornehme
Vergangenheit hatte. Man erinnerte an Deacon Brodie (der Stevenson angeblich zu seinem Jekyll
& Hyde inspiriert hatte), an Burke und Hare und was sonst noch bei den Recherchen ans Licht
kam, bis hin zu den Geistern, die in auffällig vielen der georgianischen Häuser in der Stadt
spukten. Diese Geschichten hielten die Fantasie der Bibliothekare für eine Weile am Leben,
während bei der Arbeit Flaute herrschte. Sie vereinbarten, dass jeder eine andere Zeitung kaufte,
um so viele Informationen wie möglich zu bekommen, stellten jedoch enttäuscht fest, dass die
Journalisten offenbar häufig eine zentrale Geschichte untereinander tauschten, sodass der gleiche
Artikel in zwei oder drei verschiedenen Zeitungen erschien. Es war, als ob eine Verschwörung
unter den Schreibern im Gange war.
Einige Kinder kamen allerdings immer noch in die Bibliothek. Die weitaus meisten wurden von
Mutter, Vater oder einem Aufpasser begleitet, aber ein oder zwei kamen immer noch alleine. Dieser
Beweis für den Leichtsinn mancher Eltern und ihrer Sprösslinge beunruhigte die weichherzigen
Bibliothekare, die die Kinder jedes Mal erschrocken fragten, wo denn ihre Eltern waren.
Samantha ging nur selten in die Kinderabteilung, weil sie richtige Bücher bevorzugte, aber heute
tat sie es, um von ihrer Mutter fortzukommen. Ein Bibliothekar kam zu ihr, als sie gerade in
einem schwachsinnigen Kleinkinderbuch blätterte.
»Bist du alleine hier?«, fragte er.
Samantha kannte ihn. Er arbeitete schon so lange hier, wie sie denken konnte.
»Meine Mutter ist oben«, sagte sie.
»Da bin ich aber froh. Bleib in ihrer Nähe, rat' ich dir.«
Innerlich kochend nickte sie. Ihre Mutter hatte ihr erst vor fünf Minuten eine ähnliche Predigt
gehalten. Sie war kein Kind mehr, aber das schien niemand akzeptieren zu wollen. Als der
Bibliothekar zu einem anderen Mädchen ging, nahm Samantha das Buch, das sie ausleihen wollte, aus
dem Regal und gab ihren Ausweis der alten Bibliothekarin mit den gefärbten Haaren, die die Kinder
mit Mrs. Slocum anredeten. Dann lief sie die Treppe hinauf zum Lesesaal der Bibliothek, wo ihre
Mutter nach einem wissenschaftlichen Werk über George Eliot suchte. George Eliot, hatte ihre
Mutter ihr erklärt, war eine Frau, die Bücher von ungeheuer starkem Realismus und psychologischer
Tiefe geschrieben hatte, zu einer Zeit, in der man die Männer für die großen Realisten und
Psychologen hielt und die Frauen angeblich zu nichts anderem taugten als zur Hausarbeit. Deshalb
war sie gezwungen gewesen, sich »George« zu nennen, um veröffentlicht zu werden.
Um sich diesen Indoktrinierungsversuchen zu widersetzen, hatte Samantha aus der Kinderabteilung
ein Buch mit Bildern über einen Jungen mitgebracht, der auf einer riesigen Katze davonfliegt und
in einem fantastischen Land Abenteuer erlebt, von denen er sich nie hatte träumen lassen. Sie
hoffte, dass ihre Mutter sich so richtig schön darüber aufregen würde. Im Lesesaal saßen viele
Leute an Tischen und husteten. Ihr Husten hallte in dem stillen Raum wider. Mit der Brille vorne
auf der Nase sah ihre Mutter wie eine typische Lehrerin aus. Sie stritt sich gerade mit einer
Bibliothekarin wegen eines Buchs, das sie bestellt hatte. Samantha ging zwischen den Tischreihen
hindurch und warf einen Blick darauf, was die Leute lasen und schrieben. Sie fragte sich, warum
Leute so viel Zeit mit Bücherlesen verbrachten, wo man doch so viele andere Dinge tun konnte. Sie
wollte um die Welt reisen. Vielleicht wäre sie dann hinterher bereit, in langweiligen Räumen über
alten Büchern zu brüten. Aber bis dahin jedenfalls nicht.
Er beobachtete sie, wie sie zwischen den Tischreihen auf und ab ging. Er stand da, das Gesicht
ihr halb zugewandt, und tat so, als würde er ein Regal mit Büchern über Angelsport betrachten.
Sie schaute sich allerdings nicht um. Es bestand keine Gefahr. Sie war in ihrer eigenen

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