Verbotene Früchte - Spindler, E: Verbotene Früchte
hatte sie damals erkannt. Dann würde sie sich umbringen. Vor Angst hatte sie die ganze Nacht nicht geschlafen und nur geweint.
„Schätzchen? Alles in Ordnung mit dir?“
„Ja.“ Tränen überschwemmten ihre Augen, und sie senkte den Kopf. „Aber, ich … ich war böse, Daddy. Es tut mir Leid.“
Er antwortete nicht, doch als sie vorsichtig einen Blick riskierte, sah sie, dass sich sein Kehlkopf bewegte, als wolle er etwas sagen. Sie senkte wieder den Blick. „Ich habe im Garten ein paar Blumen gepflückt und sie Mr. Riley gegeben. Er ist immer so nett zu mir, und ich wollte, dass er lächelt. Er sieht manchmal so traurig aus. Es tut mir Leid. Ich werde es nicht wieder tun.“
Ihr Vater hockte sich vor sie hin und hob ihr Kinn an. „Ist schon in Ordnung, Schätzchen. Wir haben eine Menge Blumen im Garten. Und es ist schön, wenn man anderen eine Freude machen möchte. Ich habe deiner Mommy gesagt, dass du so viele Blumen pflücken darfst, wie du willst, und sie verschenken darfst, an wen du möchtest. Sie wusste es einfach nicht.“ Er presste die Lippen zusammen und fügte hinzu: „Verstehst du, Glory?“
„Ja, Daddy, ich verstehe.“
Sie verstand es wirklich, denn sie hatten das schon viele Male so gehandhabt. Aber es war ihr Vater, der offenbar nicht verstand. Auch wenn sie tat, was er ihr erlaubt hatte, ob das nun das Blumenpflücken im Garten war oder das Herablaufen der Kirchenstufen nach der Messe oder Verstecken spielen ohne Erlaubnis, dann würde ihre Mutter sie zwar nicht bestrafen, aber sie würde sie trotzdem mit diesem sonderbaren Blick ansehen, so dass Glory sich hässlich und schlecht vorkam und am liebsten vor Scham gestorben wäre.
Glory schauderte. Sie ertrug diesen Blick ihrer Mutter nicht. Er war schlimmer, viel schlimmer sogar als jede Strafzeit in der Ecke oder körperliche Züchtigung.
Also würde sie trotz der Erlaubnis ihres Vaters keine Blumen mehr pflücken, weder für Mr. Riley noch für sonst wen – bis sie es wieder vergaß und ohne nachzudenken handelte.
„Ich habe eine Idee“, sagte ihr Vater plötzlich. „Wie wäre es heute Abend mit Dinner im Hotel? Wir gehen in den Renaissanceraum.“
Glory wollte ihren Ohren nicht trauen. Solange sie denken konnte, nahm ihr Vater sie jeden Sonntag nach der Messe mit zum French Market, wo sie Beignets aßen und Milchkaffee tranken. Nur sie beide. Hinterher gingen sie zum St. Charles, er führte sie überall herum und erklärte ihr alles, was zur Führung eines Hotels notwendig war. Er ließ sie Stichproben im Speisesaal machen und übersah, wenn sie ein paar Nüsse hinter dem Tresen oder Schokoladenmints von den Abräumwagen stibitzte.
Aber er hatte sie nie mit in den Renaissanceraum genommen, der das 5-Sterne-Restaurant des Hotels beherbergte. Ihre Mutter behauptete, sie sei noch nicht alt genug und zeige ein zu schlechtes Benehmen für das elegante Lokal.
„Der Renaissanceraum?“ wiederholte sie ungläubig. „Wirklich?“
Er stupste ihr auf die Nasenspitze. „Wirklich.“
Glory dachte an ihre Mutter, und ihre Freude schwand. Ein Besuch im Hotel war nicht halb so schön, wenn ihre Mutter dabei war. Dann musste sie nur still sein, weil man brave Mädchen sehen, aber nicht hören durfte. Sie musste sich auf ihre Tischmanieren konzentrieren und daran denken, in kleinen Bissen zu essen und in kleinen Schlucken zu trinken. Wenn ihre Mutter dabei war, verhielt sich das gewöhnlich freundliche Hotelpersonal steif und ernst. Sie zwinkerten ihr nicht zu und gaben ihr keine Süßigkeiten.
Glory senkte den Kopf. „Mama sagt, ich bin zu jung für den Renaissanceraum.“
„Wir werden sie nicht einladen.“ Er hob ihr Kinn an. „Nur du und ich.“ Er lächelte. „Aber denk dran, du musst ein Kleid tragen. Und die guten Schuhe, die, die kneifen.“
Das war Glory egal. Sie wäre auch mitgegangen, wenn sie Mausefallen an den Füßen getragen hätte. Sie warf ihm die Arme um den Hals und konnte ihre Freude kaum bezähmen. „Danke, Daddy, danke!“
Glory trug tatsächlich die Schuhe, die kniffen. Sie war mit ihrem Vater soeben am Hotel angekommen, als ihr schon die Zehen schmerzten. Ungeachtet ihres Unbehagens blickte sie an der Balkonfassade des St. Charles hinauf, und ihr ging das Herz auf in einer Mischung aus Stolz und Ehrfurcht.
Glory liebte das St. Charles, einfach alles an ihm, von den knarrenden alten, holzgetäfelten Fahrstühlen, die die Gäste die zwölf Etagen hinauftrugen, über den ständigen Menschenstrom, der
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