Verbotene Früchte - Spindler, E: Verbotene Früchte
sie gedacht haben, als er nicht zurückkehrte? Solche Fragen lösten sich stets in Schuld, Scham und Schmerz auf.
Wenn ich zu Hause gewesen wäre, könnte Mutter noch leben.
Er wusste es tief im Innern: Es war seine Schuld, dass seine Mutter tot war.
„Alles okay mit dir, Victor?“
Santos blickte auf in die freundlichen Augen des babygesichtigen Officers von neulich. Jacobs stand auf seinem Abzeichen. Der Mann war mehr als anständig zu ihm gewesen und war weit über seine Pflichten als Polizist hinausgegangen, um ihn zu trösten. Santos’ Blick war tränenverschleiert. Er wollte sprechen, aber er konnte nicht.
Der Cop legte ihm eine Hand auf die Schulter. „Es tut mir wirklich Leid, Victor. Kann ich etwas für dich tun?“
Um Fassung bemüht, ballte Santos die Hände zu Fäusten. „Finden Sie den Killer.“
„Tut mir Leid, wir versuchen es“, erwiderte er mit bedauernder Miene.
„Tatsächlich? Erzählen Sie mir noch so einen.“
Officer Jacobs ignorierte seinen Sarkasmus. „Ich weiß, wie schwer das für dich ist.“
„Wirklich?“ fragte Santos in hilflosem Zorn. „Wurde vielleicht Ihre Mutter brutal ermordet? Und wurde ihre Ermordung dann praktisch ignoriert und wie eine Bagatelle in der Zeitung behandelt?“ Seine Stimme bebte vor Trauer und Schuldgefühlen, die er nicht unterdrücken konnte. „Und wussten Sie tief im Herzen, dass Sie den Mord hätten verhindern können, wenn Sie zu Hause gewesen wären, wenn …“
„Mein Gott, Victor, nun mal halblang.“ Jacobs setzte sich neben ihn. „Was meinst du damit, du hättest den Mord verhindern können?“
„Was denken Sie wohl, was ich damit meine?“ Santos verkrampfte die Hände im Schoß. „Wenn ich zu Hause gewesen wäre, hätte der Typ es vielleicht nicht getan. Ich hätte ihn vielleicht durch meine bloße Anwesenheit verscheucht. Oder ich hätte mit ihm kämpfen können. Ich hätte ihr helfen können, ich …“
„Du wärst vermutlich ebenfalls getötet worden.“ Der Cop sah ihm gerade in die Augen. „Hör mir zu, Victor. Der Täter, wer immer er sein mag, ist ein bösartiger Killer. So einer lässt sich nicht von einem Jungen verscheuchen. Das war kein zufälliger Gewaltakt. Er ist mit deiner Mutter nach Hause gegangen, um sie zu töten. Er ist gerissen. Wir wissen das, weil er keinerlei Spuren hinterlassen hat. Er hat dafür gesorgt, dass er nicht gesehen wurde. Wir vermuten, er hat so etwas schon früher getan. Wenn du zu Hause gewesen wärst, hätte er lediglich seinen Plan geändert und dich ebenfalls umgebracht. Das sind die Fakten, Victor, so hässlich es klingt.“
„Aber ich hätte …“
„Nein, hättest du nicht. Wärst du in der Wohnung gewesen, wärst du jetzt tot. Punkt.“
„Wenigstens wäre ich da gewesen, wenigstens hätte ich versuchen können zu helfen. Wenigstens hätte sie gewusst, dass ich da bin, dass ich …“ Seine Stimme brach, und er wandte verlegen den Blick ab.
„Sie hat gewusst, dass du sie liebst, Victor. Und sie hätte nicht gewollt, dass du umkommst.“ Er tätschelte Santos’ ineinander verkrampfte Hände. „Gehen wir zu Detective Patterson, vielleicht gibt’s was Neues.“
„Das bezweifle ich. Alles, was ich von ihm höre, ist leeres Geschwätz.“
Heute war es nicht anders. Noch mehr leeres Geschwätz. Noch mehr Mist. Santos sah den Detective wütend an und hätte ihn am liebsten geschlagen. Es wäre ein gutes Gefühl gewesen, obwohl der bullige Officer ihn vermutlich schon vor dem ersten Treffer auf die Knie gezwungen und in Handschellen gefesselt hätte. Den Ausdruck arroganten Desinteresses auch nur einen Moment vom Gesicht dieses Mannes wischen zu können wäre allerdings jede Strafe wert gewesen.
„Schau“, begann Patterson, „ich weiß, sie war wichtig für dich, aber ich habe andere, dringendere Fälle zu bearbeiten. Wenn wir etwas finden, handeln wir.“
Santos sprang auf, dass sein Stuhl zu Boden fiel. „Sie Mistkerl versuchen es nicht mal! Wenn der Killer nicht hier hereintanzt und ein Geständnis ablegt, werden Sie nie etwas herausfinden.“
Der Detective verschränkte die Arme vor der Brust und zog eine Augenbraue hoch. „So was passiert.“
Jacobs legte Victor beschwichtigend eine Hand auf den Arm und warf seinem Kollegen einen warnenden Blick zu. „Victor, wir versuchen es. Das verspreche ich dir. Aber wir haben keinerlei Anhaltspunkte. Ich sagte dir schon, der Bursche war gerissen.“
„Also lassen Sie ihn einfach frei herumlaufen? Er ist da draußen.
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