Verbotene Früchte - Spindler, E: Verbotene Früchte
ihre Mutter und wünschte inständig, sie möge gehen.
Doch sie ging nicht, sondern kam noch etwas näher ans Bett. Glory hörte das leise Scharren ihrer Slipper auf dem Boden, spürte das leichte Einsinken der Matratze, als ihre Mutter das Knie darauf stemmte. Ihre Mutter beugte sich über sie, ihr Atemrhythmus veränderte sich, wurde eine Art Keuchen.
Glory bekam Angst. Und wenn es nun gar nicht ihre Mutter war neben dem Bett, sondern ein Fremder oder ein Furcht erregendes Monster?
Und wenn es nun der Teufel selbst war?
Sie stellte sich das große rote Ungeheuer neben dem Bett vor, das wartete, bis sie die Augen öffnete, damit es ihr die Seele stehlen konnte.
Glory krallte die Hände fest ins feuchte Bettlaken, und ihre Fantasie gaukelte ihr lebhafte, beängstigende Bilder vor. Schließlich konnte sie die Ungewissheit keinen Moment länger ertragen. Überwältigt von Angst, riss sie die Augen auf.
Und wünschte, es nicht getan zu haben.
Ihre Mutter stand neben dem Bett und starrte auf sie hinab, das Gesicht zu einer hässlichen Maske verzerrt, in den Augen einen Ausdruck, dass Glory Gänsehaut bekam.
Glory fröstelte, und Tränen sammelten sich in ihren Augen. Ihre Mutter sah sie an, als sei sie, Glory, das Monster, als sei sie der leibhaftige Teufel.
Warum, Mama? wollte Glory schreien. Was ist so hässlich an mir? Was habe ich getan, dass du mich so ansiehst?
Sie unterdrückte den Aufschrei mit Mühe. Einen Augenblick später wandte ihre Mutter sich mit starrem Blick ab und verließ den Raum. Sie zog die Tür hinter sich ins Schloss und ließ Glory in völliger Finsternis zurück.
Endlich strömten die heißen, bitteren Tränen. Glory rollte sich zusammen und presste das Gesicht ins Kissen, um die Geräusche ihrer Verzweiflung zu dämpfen. Sie weinte lange, bis ihre Tränen versiegten, bis sie nur noch ein gebrochenes, trockenes Schluchzen hervorbrachte.
Auf dem Rücken liegend, presste sie eines ihrer weichen Plüschtiere an sich. Sie erinnerte sich an das erste Mal, als ihre Mutter mit diesem hassverzerrten Gesicht neben dem Bett gestanden hatte. Sie war noch jung gewesen, so jung, dass sie sich an keine weiteren Einzelheiten erinnerte.
Sie erinnerte sich allerdings, wie sie sich gefühlt hatte: hässlich, verängstigt und furchtbar einsam.
Genau wie jetzt.
Glory presste das Spielzeug fester an sich. Wenigstens liebt Daddy mich. Sie klammerte sich an diese Überzeugung und ignorierte die innere Stimme, die spottete, dass er ihre Mutter noch mehr liebte. Das war ihr gleichgültig.
Sie dachte an ihren gemeinsamen Abend und seine Bemerkungen über Familie und Erbe. Es waren beruhigende, tröstende Worte gewesen. Sie fühlte sich weniger ängstlich und allein, wenn sie sich vorstellte, ein Teil ihrer Eltern, der St.-Germaine-Familie und des St. Charles zu sein.
Daran würden weder der brennende Blick der Mutter noch die Trostlosigkeit der eigenen Angst etwas ändern.
Sie war nicht allein. Mit einer Familie würde sie das niemals sein.
10. KAPITEL
Glory blieb an der Tür zur Bibliothek stehen, blickte über die Schulter, um sich zu vergewissern, dass ihre Mutter nicht in der Nähe war, schlüpfte hinein und schob die Tür fast zu. Auf Zehenspitzen schlich sie zu den Regalen, auf denen die geheimnisvollen Bücher standen, die, die ihre Mutter ihr strikt verboten hatte.
Und jetzt weiß ich auch, warum.
Sie erreichte die Bücherwand, sah noch einmal über die Schulter, legte den Kopf in den Nacken und überflog die Titel in der vierten Regalreihe. Kunst über die Jahrhunderte; Die Postimpressionisten; Pierre Auguste Renoir: Die letzten Jahre; Michelangelo.
Glory hielt beim letzten Titel inne. Ihre Großmutter hatte Michelangelo den größten Bildhauer des menschlichen Körpers überhaupt genannt. Sie wettete, dieses Buch enthielt, wonach sie suchte. Sie musste sich jetzt nur noch überlegen, wie sie es vom Regal herunterbekam.
Glory sah sich um, die Brauen grüblerisch zusammengezogen. Die Bibliotheksleiter stand an der gegenüberliegenden Wand. Die beiden Sessel, große alte Lederdinger, waren zu schwer, um sie allein zu bewegen, vom Sofa ganz zu schweigen.
„Verdammt“, murmelte sie, „was mach ich bloß?“
Ihr Blick fiel auf den Abfalleimer aus Messing. Sie ging hin, holte das zusammengeknüllte Papier heraus und trug ihn quer durch den Raum. Sie stellte ihn umgedreht vor das Regal und stieg darauf. Sie streckte sich, der Papierkorb wackelte, doch das Buch blieb unerreichbar. Sie
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