Verbotene Früchte - Spindler, E: Verbotene Früchte
des Schulbüros, das Kinn in die Hände gestützt. Eine Bedingung ihres Stipendiums war, dass sie fünf Stunden wöchentlich im Schulbüro arbeitete. Und so verbrachte sie ihre tägliche Freistunde im Büro. Gewöhnlich beschäftigte die Sekretärin sie mit Kopieren, Ablage machen und anderen Assistenzarbeiten. Doch heute war die Sekretärin krank.
Seufzend dachte Liz an ihre Familie und verglich sie mit der von Glory. Liz stammte aus, wohlmeinend beschrieben, bescheidenen Verhältnissen, manche würden es auch sozial schwach nennen. Ihr Vater war ein hart schuftender Arbeiter, der leider zu viel trank. Unglücklicherweise machte Alkohol den gewöhnlich umgänglichen Mike Sweeney gemein. Ihre Mutter war eine gläubige Katholikin, die Geburtenkontrolle für eine Todsünde hielt und leider besonders fruchtbar war. Um die Familie durchzubringen, ging Katherine Sweeney nachmittags putzen.
Liz war die Älteste der Sweeney-Brut – insgesamt gab es sieben –, und seit sie alt genug war, Anweisungen zu befolgen, hatte ein Großteil der Verantwortung für ihre Brüder und Schwestern auf ihren Schultern geruht. Als sie das erste Mal eine Ahnung davon bekam, wie der andere Teil der Menschheit lebte, stand für sie fest, dass sie nicht den Rest ihres Lebens in einer überfüllten Wohnung im By-Water-Viertel der Stadt verbringen würde. Sie hatte sich geschworen, bei der nächsten Gelegenheit von dort zu fliehen.
Ihr war immer klar gewesen, dass ihre Intelligenz ihre einzige Fluchtmöglichkeit war, und als man ihr das Stipendium für Immaculate Conception anbot, hatte sie mit beiden Händen zugegriffen.
Das Stipendium und die Akademie, das war ihre Chance, ihr Weg dorthin, wo der andere Teil der Menschheit lebte.
Ihr Vater war dagegen gewesen. Er hielt nicht viel von den reichen Säcken, wie er sie nannte. Die waren selbstsüchtig, gierig und unehrlich, und das waren noch ihre besseren Eigenschaften, meinte er.
Liz hatte dieses Urteil seiner Unbildung, seiner Arbeiterklassenmentalität und leichtem Neid zugeschrieben. Um ihn zu beschwichtigen, hatte sie jedoch versprochen, gut auf sich Acht zu geben.
Nach einem Monat auf der Akademie hatte sie allerdings angefangen, zu glauben, dass seine Warnungen berechtigt gewesen waren. Dann hatte sie Glory kennen gelernt.
Und jetzt habe ich eine Freundin, dachte sie lächelnd. Zumindest betrachtete sie Glory als solche. Sie hatte sogar daran gedacht, sie zu fragen …
„Liz?“
Liz erwachte aus ihrer Träumerei. Mrs. Reece, eine der Lehrbeauftragten an der Akademie, stand am Tresen. Liz hatte sie nicht kommen hören. Sie straffte sich verlegen. Es ging nicht an, dass man sie hier tagträumend erwischte. „Hi, Mrs. Reece. Was kann ich für Sie tun?“
Die Frau schmunzelte: „Du sahst aus, als wärst du meilenweit entfernt.“
„Tut mir Leid.“ Liz errötete. „Es kommt nicht mehr vor.“
„Keine Bange, ich erzähl’s nicht weiter.“ Mrs. Reece hielt ihr lächelnd einen Aktenordner hin. „Könntest du mir davon Kopien machen? Ich brauche den Inhalt in sechsfacher Ausfertigung, sortiert und gestapelt.“
„Ich mache das sofort.“
Liz nahm den Ordner, notierte die Arbeit auf ihrem Formular und trug ihn zum Kopierer. Sie begann gleich und war fast fertig, als der Kopierer kein Papier mehr hatte. Sie ging in die Hocke, nahm einen neuen Stapel aus dem Schrank und wollte sich wieder aufrichten, als sie verharrte, weil sie draußen auf dem Flur vor dem Büro Bebes Stimme erkannte.
„Ich habe sie gewarnt“, sagte Bebe. „Ich habe ihr gedroht, mich zu revanchieren, und das tue ich jetzt.“
Glory! Liz’ Puls schlug schneller. Bebe redet zweifellos über Glory.
„Ich weiß nicht recht, Bebe“, sagte eine andere Stimme, die Liz Missy zuordnete. „Und wenn sie herausfindet, dass du sie verpetzt hast?“
„Wen kümmert das?“ schnaubte Bebe verächtlich. „Was kann sie schon machen? Im Gegensatz zu ihr habe ich nichts zu verbergen. Außerdem haben mindestens ein Dutzend von uns gesehen, wie sie aus dem Turnunterricht entwischt ist. Woher soll sie wissen, dass ich sie verraten habe?“
Die Mädchen betraten das Büro. Liz duckte sich tiefer hinter den Kopierer, um nicht gesehen zu werden. Sie gingen durch zu Schwester Marguerites Büro und klopften höflich an die halb offene Tür. Die Schulleiterin bat sie herein, und sie schlossen die Tür hinter sich.
Liz stand auf. Bebe plante, Glory zu verraten, weil sie den Unterricht schwänzte. Sie musste Glory
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