Verbotene Früchte - Spindler, E: Verbotene Früchte
ertappt worden war, hatte ihre Mutter sie mit einer Weidenrute geschlagen, so geschickt, als hätte sie es ihr Leben lang geübt.
Die Schläge schmerzten und straften, hinterließen jedoch keine Narben. Dennoch war ein Muster sich überkreuzender roter Linien auf Glorys Rücken zurückgeblieben, das erst nach einem Monat abheilte.
Glory hatte sich jedoch auch dabei nicht gebeugt. Weder hatte sie ihre Mutter gebeten aufzuhören, noch hatte sie um Verzeihung gefleht. Auch war sie hinterher nicht zu ihrem Vater gelaufen. Sie hatte die Strafe akzeptiert und sich geschworen, sich beim nächsten Mal nicht erwischen zu lassen.
Auf seltsame Weise freute es Glory sogar, von ihrer Mutter ertappt zu werden. Nicht weil sie die Strafen genoss, sondern weil es ihrer Mutter ein abartiges Vergnügen zu bereiten schien, ihre einzige Tochter zu strafen. Als verschaffe es ihr eine stille Genugtuung, dass Glory sich so schändlich verhielt, wie sie es ihr unterstellte. Tatsächlich schien ihre Mutter nur dann Gefallen an ihr zu finden, wenn sie sie strafen konnte.
Die erstaunlichste Veränderung fand jedoch in Glorys Verhältnis zu ihrem Vater statt. Ihr Zorn hatte sich auf ihn ausgedehnt, und zwischen ihnen war eine tiefe Kluft entstanden. Früher hatte sie sich auf das Zusammensein mit ihm und ihre Besuche im St. Charles gefreut, heute vermied sie beides. Sie täuschte Gleichgültigkeit gegenüber den Belangen des Hotels vor. Sie erklärte laut und heftig, dass sie ihr Leben nicht damit verplempern wolle, das Dienstmädchen für einen Haufen Mörtel und staubiger Backsteine zu sein.
In solchen Momenten brach sie ihrem Vater das Herz.
Und jedes Mal brach auch ihres.
Insgeheim liebte sie ihren Vater und das St. Charles so wie früher. Insgeheim sehnte sie sich nach ihren gemeinsamen Ausflügen. Bei ihrem Vater hatte sie immer das Gefühl gehabt, etwas Besonderes zu sein und geliebt zu werden.
Sie konnte die Zeit jedoch nicht zurückdrehen, so sehr sie sich das manchmal auch wünschte. Alles hatte sich verändert, obwohl sie nicht genau wusste, warum. Diese Erkenntnis schmerzte mehr als die vorwurfsvollen Blicke ihrer Mutter.
Glory besuchte die Academy of the Immaculate Conception, die Akademie der unbefleckten Empfängnis, eine reine Mädchen-High-School in der Innenstadt, an der St.-Charles-Avenue. Seit 1888 gingen die Töchter der besten Familien von New Orleans auf diese Akademie. Die Mädchen wurden schon bei der Geburt auf die Warteliste gesetzt, und ein Abschluss von Immaculate Concept, wie Glory sie nannte, wurde hier ebenso geschätzt wie einer der anderen Eliteschulen. Zweifellos durfte sich die Akademie des größten „Snob-Appeals“ in der Stadt rühmen. Und in einer Stadt, die so alt, so reich und so hierarchisch strukturiert war wie New Orleans, bedeutete das einiges.
Glory beugte sich weiter zum Badezimmerspiegel vor und prüfte das hell strahlende Lipgloss, das sie gerade aufgetragen hatte. Zufrieden lächelnd verschloss sie den Stift und steckte ihn in ihre kleine Handtasche. Draußen auf dem Flur ertönte Mädchengekicher. Jeden Moment würde die Klingel ertönen, und gleich danach würde die Toilette überquellen von Mädchen, die einen letzten prüfenden Blick in den Spiegel warfen, ehe der Unterricht weiterging.
Mit dem Klingelzeichen stürmte tatsächlich eine große Mädchengruppe den Waschraum. Die Schülerinnen kamen auf sie zu. „Glory“, sagte eine, „wir haben von dir und Schwester Marguerite gehört! Stimmt das? Hat sie dir wirklich verboten, am Sophomore-Ball teilzunehmen?“
„Tja, es stimmt.“ Glory zuckte gleichgültig die Achseln. „Manche Leute verstehen eben keinen Spaß.“
Ein Mädchen namens Missy kicherte: „Ich hätte gern das Gesicht der Schwester gesehen, als sie dich in der Kapelle beim Schmökern eines Liebesromans und Knabbern von Hostien erwischt hat.“
„Das war schon ziemlich ulkig.“ Glory warf sich das lange Haar über die linke Schulter zurück. „Das Schlimme war, dass sie mir das Buch weggenommen hat. Und ich kam gerade zum guten Teil.“
„Eines Tages gehst du zu weit“, meinte Missy kopfschüttelnd. „Ich meine Hostien knabbern, ist das nicht Sünde oder so was?“
Glory verdrehte die Augen. „Du redest schon wie die Schwester. Sie waren noch nicht geweiht. Und solange sie nicht geweiht sind, sind es bloß Cracker.“
Eine zweite, kleinere Gruppe von Mädchen kam tuschelnd und kichernd herein. Als sie Glory und Missy sahen, schlenderten sie zu den
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