Verbotene Sehnsucht
betrat, verharrte sie jedes Mal in ehrfurchtsvollem Schweigen.
Das im klassizistisch-palladianischen Stil erbaute Anwesen war so riesig, dass es fast schon erschlagend und von außen ein wenig düster wirkte, doch seine Innenausstattung war zweifellos prachtvoll. Genauso wie die Kunstsammlung, eine der kostbarsten des gesamten Vereinigten Königreichs.
Hier pflegten sich die höchsten Kreise einzufinden, und man wetteiferte um die erlesenste oder ausgefallenste Abendgarderobe und die prächtigste Schmuckkreation mit Edelsteinen aus den vielen Kolonien des Empire, aus Indien oder aus Afrika. Erlaubt war fast alles: Während es bei den Röcken der Ballkleider um möglichst viele Lagen schwingenden Stoffes ging, sparte man an den Oberteilen an Material, sodass die Ausschnitte oftmals von gewagt bis skandalös reichten, zumindest bei den jüngeren Damen.
Missys dreilagige türkisfarbene Robe rangierte irgendwo in der Mitte– mit einem Dekolleté, das genug Einblicke gewährte, um ihre jugendliche Schönheit zur Geltung zu bringen, und genug verhüllte, um nicht etwa anstößig zu wirken. Als einzigen Schmuck trug sie eine einreihige Perlenklette mit passenden Ohrringen. Mit den Händen, die in seidenen Handschuhen steckten, umklammerte sie die Tanzkarte, auf der lauter heiratsfähige Gentlemen ihre Namen eingetragen hatten.
» Sieht so aus, als redete Lord Clayton unermüdlich auf deinen Bruder ein«, meinte Claire. » Was denkst du, wie lange er seine Gegenwart erträgt, bevor er sich unter einem Vorwand entschuldigt?«
Nachdem Missy die vergangene Stunde ständig neuen Tanzpartnern aufs Parkett folgen musste, war sie ehrlich erleichtert, jetzt ihre Freundin zur Seite zu wissen. Sie hatte Claire bereits als Vorwand benutzt, Lord Granville einen zweiten Tanz abzuschlagen, ohne dass ihre Mutter oder ihr Bruder missbilligend die Brauen hochziehen konnten. Sie hielten beide noch an der Vorstellung einer möglichen Verbindung mit diesem hochrangigen Adelsspross fest, dem man sowieso keine Absage erteilte. Zumal keine Lady in ihrer vierten Saison, die sich für jede Aufmerksamkeit dankbar erweisen sollte. Wenn sie nur wüssten, dass besagte Lady wie eine heiße Kartoffel fallen gelassen würde, sollte je die Wahrheit ans Licht kommen.
Lord Granville indes nahm ihre Ablehnung auf die leichte Schulter, hatte gemurmelt, dass es möglicherweise zudem besser sei, keine unangemessenen Erwartungen zu wecken, und ihr verschmitzt zugezwinkert, bevor er sich mit einer Verbeugung empfahl und ein willigeres Opfer suchte.
Missy genoss es derweilen, ein wenig ungestört mit Claire über die Gäste zu tratschen, und schaute vergnügt hinüber zu ihrem Bruder und ihrer Mutter, die sich höflich, aber wenig begeistert mit Lord und Lady Clayton unterhielten. Worüber, das konnten sie bei der Musik und dem allgemeinen Stimmengewirr nicht hören.
» Ich möchte behaupten, dass mein Bruder sein Ohr für den Rest des Abends dem Gespräch über Schiffsbau oder preisgekrönte Pferde leihen muss«, meinte Missy trocken, » wenn überhaupt jemand flüchten kann, dann ist es meine Mutter.«
Claire lachte auf. » Nun, vielleicht hat Thomas ja Glück, und Clayton schnappt sich meinen Vater für eine ermüdende politische Diskussion.«
Zumindest passten die beiden zueinander, denn der Baronet Rutland, der Vater ihrer Freundin, lebte für die Politik und interessierte sich für alles, was sich in den ehrwürdigen Mauern des Parlaments abspielte. Neben Lord Clayton galt er als der Mann im Oberhaus, der seine Interessen am lautesten vertrat.
Wie nebenbei ließ Missy ihre Augen durch den großen, pompösen Ballsaal gleiten, musterte die Menschen, die hereinströmten. Die Gesichter der Männer schienen wie in einem faden und trüben Nebel ineinander zu verschwimmen, bis sich plötzlich eines mit atemberaubender Klarheit scharf und farbig aus dem Einheitsgrau heraushob. Sie glaubte, in Ohnmacht zu fallen.
James.
Sie verharrte reglos, als er sich durch die Menge bewegte, unfähig sich zu rühren. Alles wegen ihm. Seit ihrer letzten Begegnung war eine Woche vergangen, und sie hatte nicht damit gerechnet, ihn an diesem Abend hier zu treffen, und sogar darum gebetet, dass ihr das erspart blieb.
Sie verfolgte ihn mit ihren Blicken, wie er weiter in den Saal ging und die Menge auseinanderwich, um ihm Platz zu machen. Erst jetzt bemerkte sie die Frau an seiner Seite: Lady Victoria Spencer. Ihr stockte der Atem.
Mit einem kleinen Schlenkern ihres
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