Verbotene Sehnsucht
Tür.
» Guten Morgen, Miss Armstrong. Bedauerlicherweise ist Lord Armstrong nicht im Hause.« Seine Ausdrucksweise klang so vornehm, dass sie sich manchmal fragte, ob er wirklich und wahrhaftig ein Diener war. Manchmal meinte sie sogar eine leichte Arroganz herauszuhören, wie sie für die hochmütige Londoner Gesellschaft typisch war. Aber was stehe ich hier, dachte Missy, und zerbreche mir über solche Fragen den Kopf, wenn ich wahrlich wichtigere Dinge zu erledigen habe?
Sie drehte sich wieder zu dem Butler um. » Wissen Sie, wann man ihn zurückerwarten kann?«
Arthur betrachtete sie ein paar Sekunden lang und meinte dann in seiner üblichen gestelzten Sprechweise: » Ich erwarte seine baldige Rückkehr, da für zehn Uhr eine Verabredung vorgesehen ist.«
Missy warf einen Blick auf die reich verzierte Standuhr in der Halle. Nur noch eine Viertelstunde bis zehn. Sie zupfte an ihren Handschuhen. » Dann warte ich im Salon auf ihn.« Sie reichte Arthur Haube und Umhang, bevor sie die kleine Halle durchquerte und in den kleinen gemütlichen Salon ging, der lediglich privat genutzt wurde.
Seit sie das letzte Jahr hier gewesen war, hatte sich wenig verändert– außer ein paar Ölgemälden mehr in der Halle und einem dunkelroten Teppich im Salon, wo sie jetzt auf einem grünen Sofa Platz nahm.
Missy fragte sich, wo ihr Bruder wohl sein mochte, denn es war ungewöhnlich, dass er so früh schon das Haus verließ. Die übliche Zeit, jemandem seine Aufwartung zu machen, war noch lange nicht gekommen. Nicht dass ihr Bruder besonderen Wert auf solche Dinge legte, aber es war einfach eine Frage der Etikette.
Kurz darauf trat Arthur ein und erkundigte sich, ob sie eine Erfrischung wünsche. Sie lehnte ab, da sie gerade von einem Frühstück mit Scones und Tee kam.
Während des Wartens sank ihr Mut. In den frühen Morgenstunden hatte sie sich noch stark und tapfer gefühlt und sich sogar das Versprechen gegeben, James für immer und ewig aus ihren Gedanken zu verbannen. Was sie im Laufe der nächsten Stunden mindestens ein Dutzend Mal brach. Wieder und wieder geisterte die Erinnerung an jenen Abend, der ihr Leben unwiderruflich verändert hatte, durch ihren Kopf. Manchmal erschauderte sie über ihre Dreistigkeit und schämte sich– fragte sich, was die Leute wohl von ihr dachten. Bestimmt gab es nicht wenige, die ihr die Schuld an dem ganzen Schlamassel zuschoben. Wie James selbst, der ihr vorwarf, ihn verführt zu haben, während er sich durch sein körperliches Verlangen entschuldigt sah.
Und jetzt musste er heiraten und wurde in wenigen Monaten Vater. Wie immer zog sich bei diesem Gedanken ihr Herz zusammen, als sei es in einen Schraubstock eingezwängt. Wann würde endlich der Tag kommen, an dem der Schmerz nachließ?
Gerade als Missy aufstand, um ein kleines geschnitztes Pferd auf dem Bücherregal zu betrachten, hörte sie, wie die Tür geöffnet wurde.
Zuerst dachte sie, dass Thomas endlich nach Hause gekommen sei, doch er war es nicht, der mit Arthur sprach. Es war… Erschrocken stellte Missy die Figur zurück ins Regal, ging zur Tür und streckte den Kopf hinaus, um sich sofort zurückzuziehen. James durchquerte die Halle und kam geradewegs auf den Salon zu.
Sekunden später stand er auf der Türschwelle. Vorsichtig musterten sie einander. Missy zwang sich zu gleichmäßigem Atmen und flehte, dass ihr Gesichtsausdruck nicht ihre Aufregung verraten möge.
» Guten Morgen, Missy.«
Wie ruhig und gelassen er klang, dachte sie und wünschte zugleich, das ebenso zu können.
» James«, grüßte sie und hob das Kinn, » sicher hat Arthur dir schon gesagt, dass Thomas nicht zu Hause ist.«
Ein merkwürdiges Lächeln spielte um seine Lippen. » In der Tat, das hat er. Aber ich bin überzeugt, dass er bald eintreffen wird, da wir um zehn verabredet sind.«
Vermutlich würden ihre Begegnungen in Zukunft immer auf diese Weise verlaufen: steif, höflich und oberflächlich. Wenn sie doch nur auf ihren Bruder und auf Claire gehört hätte… Es entsprach der Wahrheit, was man ihm nachsagte, nämlich dass er ein ziemlich kaltherziger Kerl sei, der die Frauen nahm und wieder wegwarf. Nicht ein Fünkchen Gefühl schien er für sie aufzubringen, obwohl er erst vor einigen Wochen mit ihr im Bett gelegen hatte. Er jedoch tat so, als sei es niemals geschehen. Sie musste ein Dummkopf gewesen sein in all den Jahren, als sie ihr Herz an einen Mann hängte, der in ihrer Vorstellung so ganz anders war als in Wirklichkeit.
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