Verbotene Sehnsucht
alleine aufgesucht habe? Was willst du dann unternehmen, James? Es meiner Mutter verraten? Oder Thomas? Und was willst du ihnen sagen, wenn ich fragen darf? Dass du mehr als alle anderen Leute auf der Welt mit Erfahrungen aus erster Hand aufwarten kannst, was dann passiert?«, höhnte Missy und genoss es, seinen Zorn anzustacheln, denn seine Heuchelei verletzte sie maßlos.
In seinen eisblauen Augen flackerte Wut auf. Er stemmte die Hände in die Seiten und sah aus wie ein zum Sprung bereites Raubtier. » Provozier mich nicht«, stieß er grimmig hervor.
» Und du solltest nicht glauben, dass du mir vorschreiben kannst, wie ich mein Leben zu führen habe«, sagte sie abschließend, wirbelte herum und kehrte hoch erhobenen Hauptes in den Salon zurück.
Erst in den frühen Morgenstunden konnte Missy in ihr warmes Bett klettern. Endlich, denn sie war an Körper und Geist erschöpft. Abgesehen von dem unerfreulichen Wortwechsel in der Halle hatten James und sie nicht mehr miteinander gesprochen. Auch nicht zum Abschied. Da war sie lieber bei Claire geblieben, während Thomas und James noch ein paar Worte wechselten.
Eines war ihr eindeutig klargeworden, während sie unkonzentriert das Ende der musikalischen Darbietungen verfolgte: Ihre Gefühle für James machten es ihr unmöglich, in London zu bleiben. Denn in diesem Fall müsste sie nicht nur die Hochzeit über sich ergehen lassen, sondern auch noch den glücklichen Eltern und ihrem Neugeborenen einen Höflichkeitsbesuch abstatten. Das, beschloss sie, käme einem gefühlsmäßigen Selbstmord gleich. Aber in London gab es keinen Ausweg, weil James zu den engsten Freunden ihres Bruders und beinahe zur Familie gehörte. Es war unvermeidlich, ihm zu begegnen, ob nun geplant oder zufällig.
Wenn sie doch vollständig von der Bildfläche verschwinden oder zumindest ganz weit wegfahren könnte. Weit weg von James… Eine Idee keimte in ihr auf, zuerst nur im hintersten Winkel ihres Kopfes, nahm schließlich Gestalt an. Es war möglich, sich alldem zu entziehen. Mehr und mehr glaubte sie an die Machbarkeit ihres Planes und war überzeugt, die perfekte Lösung für ihr Problem gefunden zu haben. Warum sollte sie nicht nach Amerika reisen zu ihrer Tante Camille, der jüngsten Schwester ihrer Mutter?
Vor zehn Jahren war diese John Rockford begegnet, einem Amerikaner, der sich aus geschäftlichen Gründen in England aufhielt, und es hatte nur zwei kurze Monate gedauert, bis die beiden heirateten und nach New York zurückkehrten.
Im Frühling erst hatte die Tante der Familie eine Einladung geschickt, welche jedoch mit Hinweis auf Sarahs und Emilys Unterricht abschlägig beschieden worden war. Und wegen ihrer Saison. Doch weder das eine noch das andere konnte sie von jetzt an daran hindern. Das Hauptproblem bestand darin, ihrer Mutter die Erlaubnis abzuringen, alleine eine so große Reise machen zu dürfen.
Missy konnte sich nur einen einzigen Umstand vorstellen, unter dem die Viscountess ihren Segen erteilte: Thomas musste ebenfalls voll und ganz einverstanden sein, und es fand sich zudem eine ordnungsgemäße Anstandsdame. Ordnungsgemäß hieß, über jeglichen Verdacht erhaben und vollkommen zuverlässig und verantwortungsbewusst. Wenn es ihr gelang, jemanden zu präsentieren, dem ihre Mutter volles Vertrauen entgegenbrachte, würde sich das vorteilhaft für ihre Pläne auswirken. Es war also wichtig, diese Sache ernsthaft und gründlich anzugehen. Gleichzeitig musste sie versuchen, Thomas als Unterstützer zu gewinnen. Wenn überhaupt jemand Einfluss auf ihre Mutter ausüben konnte, dann er.
Ihr Bruder wohnte nicht weit von James entfernt. Auf dem Weg, den ihre Kutsche am nächsten Vormittag nahm, fuhr sie sogar an seiner Straße vorbei. Stevens, der inzwischen der Überzeugung zu sein schien, dass es zu seinen obersten Pflichten zählte, sie zu heiklen Besuchen zu begleiten, war auch diesmal mit von der Partie.
Genau wie James lebte Thomas in einem schmalen, hohen Stadthaus aus Backstein. Sie stieg die paar Stufen zur Eingangstür hinauf und schlug den Klopfer auf das Eichenholz.
Die Tür ging so schnell auf, dass Missy überzeugt war, der Butler müsse gesehen haben, wie sie sich auf der Straße näherte.
» Guten Morgen, Arthur, ist mein Bruder zu Hause?« Sie wartete die Antwort nicht ab, sondern schoss an dem Mann vorbei und ließ den Blick durch das Foyer schweifen.
Arthur nickte kurz und verbeugte sich, wenn auch ein bisschen verspätet, und schloss die
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