Verbotene Wege - Link, C: Verbotene Wege
eingenommen hatten, gab Phillip das Zeichen zum Aufbruch. Schon bald merkten sie, daß John recht gehabt hatte. Der Nebel hob sich, und die Sonne schien von einem klaren, blauen Oktoberhimmel. Sie fuhren durch gelbgefärbte Wälder, an abgeernteten Feldern vorbei, durch Wiesen, aus denen es nach Pilzen, Laub und überreifen Äpfeln roch. Die Stimmung wurde heiter und ausgelassen, so daß selbst Harriet auflebte und interessiert zum Fenster hinaussah. Sie war auch die erste, die bei einbrechender Dunkelheit ein hölzernes Schild am Straßenrand entdeckte, das auf ein nahe gelegenes Wirtshaus hinwies. Beim Herankommen bemerkten sie, daß es sich um eine äußerst verwahrloste Herberge handelte. In einem dreckigen, abfallüberhäuften Hof stand ein baufälliges altes Haus, zum Teil aus Holz, zum Teil aus Steinen gebaut. Es wirkte sehr hoch, aber nur aus den unteren Fenstern drang Licht. Von Zeit zu Zeit war ein grölendes Lachen zu hören. Phillip sprang aus der Kutsche.
»John«, rief er, »kennen Sie dieses Wirtshaus?«
John ritt zu ihm heran.
»Nein«, erwiderte er, »es scheint aber gesellig dort zuzugehen. Ruhe werden wir so bald nicht finden. Ich meine, wegen Lady Sheridy ... «
»Es bleibt uns nichts anderes übrig, als hier zu übernachten. Es ist eine einsame Gegend, wer weiß, wann wieder ein Haus kommt. Die Diener sollen sich um die Pferde kümmern!«
Phillip nahm Harriets Arm, schritt auf die Eingangstür zu, öffnete und betrat hocherhobenen Hauptes den Raum. Ihm folgte John, dann kam Agatha mit Joanna und Elizabeth, zuletzt Cynthia.
Bei ihrem Eintritt erstarb das Stimmengemurmel sofort, und alle Blicke wandten sich ihnen zu. Es befanden sich etwa zehn Männer in dem Raum, die an mehreren Tischen saßen, aber offenbar zusammengehörten, denn sie sahen einander vielsagend
an. In der Mitte auf einem Tisch saß eine junge Frau, deren Gesicht vor lauter Haarmähne fast nicht zu erkennen war und die ein unglaublich tief ausgeschnittenes feuerrotes Kleid trug. Der Wirt, der hinter dem Schanktisch gerade ein paar Gläser trockenwischte, hielt in seiner Bewegung inne und starrte mit schwimmenden Augen zu den neu angekommenen Gästen hinüber. Erst etwas später bemerkten diese, daß in einer weiter hinten gelegenen Tür noch ein paar zerlumpte, verhärmte Frauen lehnten, im Schatten fast nicht sichtbar, nur die weit offenen, hungrigen Augen leuchteten.
Die Leute schienen arm zu sein, denn sie trugen schmutzige Kleider, hatten wirre, ungepflegte Haare und ungewaschene Hälse. Im übrigen waren sie alle bereits leicht betrunken.
»Sieh an!« rief einer. »Wer kommt denn da?«
»Feine Leute«, antwortete ein anderer, »oh, so ein Glanz!« Seine Augen ruhten auf Harriet, an deren Hals und Armen Brillanten funkelten. Phillip, die Stimmen ignorierend, schritt auf die Theke zu.
»Wir sind vierzehn Personen«, sagte er zu dem Wirt, »können wir hier übernachten?«
Der Wirt starrte ihn an.
»Natürlich, gern, Sir«, erwiderte er lauernd, »aber wir sind ein bescheidenes Haus...«
»Du kannst den vornehmen Herrschaften doch nicht deine verlausten Drecksräume anbieten!« rief jemand.
»Halts Maul«, brummte der Wirt. »Wenn die hierherkommen, müssen sie nehmen, was da ist!«
»Wir sind müde und stellen keine hohen Ansprüche«, sagte Phillip kalt. Ein junger Mann, ärmlicher als die übrigen, der weniger betrunken, aber dafür bösartiger wirkte, trat vor.
»Vielleicht stellen Sie keine hohen Ansprüche, Sir«, sagte er, »aber wir tun das. Wer sagt Ihnen, daß wir bereit sind, mit Ihnen und Ihresgleichen unter einem Dach zu schlafen?«
»Seien Sie nicht albern. Das Haus ist groß genug, so daß wir uns nicht gegenseitig belästigen müssen. Ihre Versuche, mich zu provozieren, sind ganz überflüssig.«
»Meinen Sie?« Der junge Mann kam noch dichter an ihn heran. In seinen Augen stand so viel Haß, daß Harriet sich erschrocken fester an Phillips Arm klammerte. Trotzdem bemerkte sie, daß ihr Gegenüber unter all dem Dreck bleich und krank aussah.
»Laß die doch«, rief jemand, »sollen sie sich doch hier einnisten, wenn sie das ihren süßen Kinderchen zumuten wollen!« Lachend schauten alle zu Cynthia, Joanna und Elizabeth hin. Cynthia setzte eine empörte Miene auf, Joanna und Elizabeth bekamen kugelrunde Augen. Aber trotz des Gelächters hatte sich eine neue Spannung in den Raum geschlichen. Eine unheimliche Feindseligkeit breitete sich aus. John begriff, daß Phillips immer hochmütiger
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