Verbotene Wege - Link, C: Verbotene Wege
zusammen. Das Fieber schüttelte ihn, und er mußte furchtbare Schmerzen haben. Elizabeth sah ihn fast teilnahmslos an und fragte sich, welchen Sinn die Rettung eines einzelnen haben sollte, wenn draußen gleichzeitig die Männer wie die Fliegen starben und sie alle ohnehin bis zum Abend tot sein würden. Sie gab sich über ihre Lage keiner Illusion hin. Dieser Kampf wurde
so mörderisch geführt, wie sie es sich in keinem Traum hätte vorstellen können. Sie blickte auf ihre Hände hinab und stellte fest, daß sie zitterten.
Die Kellertreppe herauf kamen Schritte. Hortense bog um die Ecke, das Gesicht vor Furcht verzerrt. Sie trug eine flackernde Kerze und sah Elizabeth an wie ein Gespenst.
»Du bist es«, sagte sie schwach, »mein Gott, ich hatte solche Angst! Sind die Franzosen...«
»Sie sind im Haus. Wo ist Tante Marie?«
»Nicht hier.«
»Bist du allein dort unten?«
»Die Dienstboten sind da. Paulette und Jerome. Sonst niemand. «
Elizabeth nickte.
»Nimm diesen Soldaten mit hinunter«, befahl sie, »vorsichtig, sein Bein ist verletzt.«
»Wo gehst du hin, Elizabeth?«
»Ich muß nach John sehen.«
»Nein, du bist wahnsinnig! Sie bringen dich um!«
»Ach, rede keinen Unsinn!« Elizabeth riß die Tür wieder auf und wollte zurück in die Halle, aber sie stieß mit Tante Marie zusammen, die sie zurückdrängte.
»Nein, Kind!« rief sie. »Bleib um Gottes willen, wo du bist! Die Franzosen töten jeden, der ihnen in den Weg kommt!«
»Ich muß zu John, lassen Sie mich vorbei...«
Aber Tante Maries eisenharte Finger umklammerten Elizabeths Handgelenke unerbittlich.
»Du würdest es nicht einmal bis zur Treppe schaffen. Sieh mich an!« Sie hob ihren Arm, und jeder konnte den tiefen, auseinanderklaffenden Riß sehen, der sich von der Schulter bis zum Ellbogen zog und heftig blutete. Hortense wurde blaß.
»Du bist ja verletzt, Tante Marie!«
»Da draußen ist die Hölle«, sagte Marie, »in unserem Schloß liegen so viele Tote, daß man kein Stück Teppich mehr sieht. Jesus im Himmel«, sie fuhr sich über die wirren grauen Haare, die heute zum ersten Mal in ihrem Leben in Unordnung geraten waren,
»Ligny und St. Amand sind gefallen. Von La Haye stehen nur noch Ruinen. Und da draußen ist kein Grashalm mehr, nur noch tote Männer und tote Pferde und Feuer, wohin man sieht...« In ihre Augen traten ein paar Tränen, ein Ereignis, das von niemandem in diesen Sekunden richtig gewürdigt wurde, dabei aber doch sehr bedeutungsvoll war, denn es gab keinen Menschen auf der Welt, der sich erinnern konnte, daß Marie Sevigny jemals geweint hatte. Aber schon riß sie sich wieder zusammen.
»Hier können wir nicht bleiben«, sagte sie, »wir müssen hinaus. Durch den Park hinüber in den Pavillon!«
Elizabeth kannte den kleinen steinernen Pavillon, der am Ende des Parks stand, von Bäumen und Sträuchern verborgen und sehr idyllisch anzusehen, inzwischen aber verstaubt und von Gestrüpp überwuchert. Er war einmal für Gartenfeste oder kleinere Gesellschaften gebaut worden, aber natürlich wußten Tante Marie und Hortense nie etwas damit anzufangen. John und Elizabeth hatten manchmal überlegt, ob sie dort einziehen sollten, aber John hatte diesen Plan immer wieder verworfen, weil er damit Maries unausgesprochenem Wunsch nachgekommen wäre. Jetzt bot sich ihnen das kleine Häuschen als Zufluchtsstätte, aber Elizabeth schüttelte den Kopf.
»Ich kann John nicht...«, begann sie, aber Marie fiel ungeduldig ein:
»John kommt auch in den Pavillon. Er rettet sich genauso wie wir.«
»Haben Sie mit ihm gesprochen?«
»Ja. Er wird schon auf sich achtgeben. Jetzt kommt aber!«
Hortense und Elizabeth nahmen den verletzten Soldaten zwischen sich und stützten ihn die Treppe hinunter, wo bereits die Dienstboten Jerome und Paulette warteten. Tante Marie leuchtete ihnen den Weg. Es war ein merkwürdiges Gefühl, durch die finsteren Gewölbe des totenstillen Kellers zu eilen, in dem nichts zu hören war als das vereinzelte Tropfen von Wasser an den feuchten Wänden, und gleichzeitig zu wissen, daß oben gekämpft wurde und ein Mann um den anderen tot zu Boden fiel.
Am Ende des Vorratskellers erreichten sie eine eiserne Tür, die ins Freie führte. Sie mußten einige Stufen hinauf, ehe sie in den Park kamen, der hinter dem Schloß lag. Er erstreckte sich weit über das Land, ohne daß man seine Mauern sehen konnte, so viele Bäume und Büsche wucherten an allen Seiten. Hier war es noch friedlich. Zwar klang der
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