Verbotene Wege - Link, C: Verbotene Wege
weniger Augenblicke das ganze Dorf in eine undurchdringliche Wolke von Feuer und Rauch hüllte. Ein fürchterliches Gemetzel hatte in diesem Moment begonnen, dessen Grauens später in den Geschichtsbüchern wenig gedacht werden sollte, da es nicht die Entscheidung brachte und zwei Tage später für immer in den Schatten von Waterloo tauchen würde.
5
Elizabeth, John und die übrigen Bewohner des Hauses begriffen sehr rasch, daß sie an diesem Nachmittag nicht wohlverborgen im Schutz eines sicheren Schlosses einem entfernt tobenden Gefecht zusehen würden, sondern daß sie mitten im Geschehen standen und verzweifelt um ihr Leben kämpfen mußten. Kaum war das Signal zum Kampf gegeben, da schwirrte die Luft schon von hin und her sausenden Granaten, die krachend in der Erde einschlugen, tiefe Löcher in Getreidefelder rissen, Obstbäume entwurzelten und Häuser in Brand setzten. Elizabeth hatte sich unter der Treppe zusammengekauert und zitternd den Kopf auf ihre Knie gelegt. Obwohl sie sich die Ohren zuhielt, vernahm sie
lautes, wildes Geschrei von draußen. Sie richtete sich auf und eilte an eines der unteren Fenster, wo sie gleichzeitig mit Hortense anlangte. Beide starrten hinaus und schrien dann gellend. Über die Wiesen vor ihnen stürmten französische Soldaten heran, bewaffnet mit Gewehren und Bajonetten und so viele, daß es schien, es müßten Abertausende sein. Offenbar hatten sie vor, die Dörfer St. Amand und Ligny zu nehmen, in deren Mauern Preußen lagen, aber alle Häuser dazwischen mußten ebenso wichtig für sie sein. Hortense klammerte sich an Elizabeth und blickte sie aus einem weißen Gesicht in panischer Furcht an.
»Sie kommen auf uns zu, Elizabeth«, schrie sie, »o Gott, sieh nur, sie kommen auf uns zu! Wir werden sterben!«
Aus den obersten Fenstern eröffneten die Soldaten nun ein heftiges Feuer auf die Angreifer. Elizabeth konnte sehen, wie eine erste Reihe von Franzosen blutend fast vollständig zusammenbrach. Aber wenige Meilen weiter ging ein Bauernhof in Flammen auf und wurde offenbar von den Feinden sofort eingenommen. Elizabeth sah sich um.
»Wo ist John?« rief sie. »Hortense, hast du John gesehen?«
Hortense schüttelte den Kopf. Sie brach schluchzend auf dem Boden zusammen, unfähig, länger die Beherrschung zu wahren. Ihre Nerven verließen sie völlig in diesen ersten Minuten der Schlacht, aber Elizabeth kümmerte sich nicht darum. Sie hastete die Treppe hinauf und blieb oben im Gang entsetzt stehen und lehnte sich kraftlos gegen die Wand, denn vor ihr, quer über den Flur hingestreckt, lag ein toter preußischer Soldat. Eine Kugel mußte ihn drinnen im Zimmer am Fenster getroffen haben, und er war dann rückwärts getaumelt, bis er hier zusammenbrach. Elizabeth schluckte und merkte, wie ihr am ganzen Körper der Schweiß ausbrach. Vorsichtig stieg sie über den Toten hinweg. Ich werde heute sterben, dachte sie beim Weiterlaufen, heute ganz sicher. Diesmal ist es aus.
In ihrem Schlafzimmer fand sie John, der zwischen zwei Soldaten kauerte und hinausschoß. Sie blieb erschrocken in der Tür stehen.
»John, was tust du denn hier?« rief sie. John drehte sich um und sah sie zornig an.
»Raus hier!« fauchte er. »Geh in den Keller und nimm Marie und Hortense mit! Beeil dich!«
»Du wolltest nicht kämpfen. Du hast gesagt...«
»Herrgott, was glaubst du, was die Franzosen mit uns machen, wenn sie das Schloß erobern? Ich muß jetzt kämpfen!«
»Laß mich helfen. Ich werde...«
»Du wirst in den Keller gehen, verdammt noch mal! Hier oben schwirren die Kugeln nur so herum!«
Elizabeth schossen die Tränen in die Augen, aber sie gehorchte. Sie rannte auf den Flur zurück, wo sie am oberen Treppenabsatz Tante Marie traf, die vor dem toten Soldaten stand und ihn etwas pikiert anblickte.
»Man sollte ihn in einen der Salons bringen, damit nicht noch jemand über ihn fällt«, sagte sie. »Elizabeth, du nimmst die Beine!«
Sie hoben ihn mit vereinten Kräften auf, wobei Elizabeth den Anblick der Blutlache, die auf dem Boden zurückblieb, zu ignorieren versuchte. Gemeinsam schleppten sie ihn in ein angrenzendes Zimmer und legten ihn auf ein Sofa. Tante Marie strich sich ihr Kleid glatt.
»Ich halte es für meine Pflicht«, erklärte sie, »das Schloß meiner Vorfahren nach besten Kräften zu verteidigen. Ich werde beim Laden der Gewehre helfen. Du bringst währenddessen den verwundeten Preußen, der im Zimmer meiner seligen Mutter liegt, in den Keller hinab. Er ist
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