Verbotene Wege - Link, C: Verbotene Wege
vollkommen wehrlos, und wir dürfen nicht ausschließen, daß den Feinden eine Eroberung des Hauses gelingt — was Gott verhüten möge!«
Elizabeth nickte. Sie verspürte erstmals ein wenig Bewunderung für Tante Marie. Sie schritt würdevoll und unerschrocken durch die Räume ihres bedrängten Schlosses, während vor dessen Mauern die Granaten explodierten, die Fensterscheiben unter dem Kugelhagel der Feinde zersplitterten und sich draußen schwarzer Qualm über die Welt senkte. Ein eiliger Blick aus dem winzigen Bogenfenster am Ende des Ganges zeigte Elizabeth,
daß die Franzosen nun, nachdem sie zweimal zurückgeworfen worden waren, zum dritten Angriff übergingen. In der kurzen Zeit, die der Kampf nun dauerte, hatte sich das Land draußen bereits völlig verwandelt.
Alle Felder und Wiesen waren niedergetrampelt, wo Blumen geblüht hatten, lag nur noch Staub, in den die toten und verwundeten Soldaten fielen, einer um den anderen, bis ihr Blut die Erde aufweichte. Elizabeth konnte erkennen, daß sogar im Ligny-Bach Leichen trieben, und viel später hörte sie, daß am späteren Nachmittag das Wasser von toten Körpern so verstopft war, daß Soldaten, die hindurchwaten wollten, nicht mehr vorwärtskamen und umkehren mußten. Sie eilte in das würdige Schlafzimmer von Johns Urgroßmutter, wo der verwundete Soldat halb aufgerichtet auf dem Bett lag und ihr angstvoll entgegenblickte. Bis hin in diesen abgelegenen Raum drang das furchtbare Krachen und Toben von draußen.
»Was geht dort vor?« fragte er hastig. »Wie stark sind die Franzosen? Können wir uns halten?«
»Im Augenblick noch«, entgegnete Elizabeth, »aber die Franzosen scheinen ziemlich stark zu sein. Wir meinen, daß Sie sich im Keller verborgen halten sollten, falls das Schloß gestürmt wird. Sie sind völlig unfähig, sich zu verteidigen.«
Der Soldat protestierte zunächst, aber Elizabeth, die sehr schnell merkte, daß er auch Fieber hatte, blieb hart. Sie half ihm, sich zu erheben, und befahl ihm, sich auf ihre Schulter zu stützen. Der Soldat stand auf sehr wackligen Beinen und war totenblaß. Langsam nur erreichten sie die Tür. Als sie in den Gang traten, schrie gerade jemand, St. Amand und Ligny seien an den Feind gefallen und im Schloß sei kaum noch Munition. Eine Granate schlug durch die Wand und riß ein tiefes Loch in den Boden. Der Soldat zuckte zurück und wollte umkehren, doch Elizabeth zwang ihn weiterzugehen. Sie betete zu Gott, daß sie den Keller erreichten, bevor die Franzosen das Schloß stürmten, womit jederzeit zu rechnen war. Sie stolperten die Treppe hinunter, sahen durch ein Fenster neben sich keinen Himmel mehr, sondern nur noch schwarzen Qualm, und vernahmen entsetzlich
nah die Schreie der heranstürmenden französischen Infanterieeinheiten, kaum übertönt von den Salven preußischer Artillerie, die sie zurückzuschlagen suchten. »Schnell, so beeile dich doch!« rief Elizabeth, aber obwohl sie in ihrer Aufregung englisch gesprochen hatte, schien der Soldat sie zu verstehen, denn er preßte die Lippen schmerzvoll aufeinander und bemühte sich, auf seinem einen Bein noch rascher zu hinken. Zu ihrem Entsetzen bemerkte Elizabeth, daß die große hölzerne Tür, die von außen in die Eingangshalle führte, bebte und schwankte, als wolle sie jeden Moment bersten.
Jetzt kamen auch Preußen die Treppe herunter, die Bajonette kampfbereit von sich gestreckt, und einer schrie Elizabeth an: »Verflucht, Madame, was suchen Sie hier? Verschwinden Sie, die Franzosen nehmen das Schloß!«
Sie erreichten den Keller in der buchstäblich letzten Sekunde. Schon brach das Schloßtor auseinander, und eine Horde französischer Soldaten drang in die Eingangshalle. Die ersten von ihnen brachen im Kugelhagel der Verteidiger zusammen, aber ihnen folgten andere nach, so viele, daß sie nicht aufzuhalten waren. Im Nu war die ganze Halle vom Klirren aufeinanderschlagender Bajonette erfüllt und von den Schreien der Getroffenen. Preußen und Franzosen kämpften Mann gegen Mann, sie rangen, schossen und stachen aufeinander ein. Die Preußen wehrten sich zäh, aber von Anfang an mußte jeder wissen, daß es den Franzosen gelingen würde, das Schloß zu besetzen. Elizabeth stieß den verletzten Soldaten fast die Treppe hinunter, zerrte die schwere Tür hinter sich zu und lehnte sich von innen aufatmend dagegen.
»Gehen Sie hinunter«, sagte sie, »verbergen Sie sich irgendwo in den Gewölben.«
Der Mann murmelte etwas und sank auf einer Stufe
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