Verbotene Wege - Link, C: Verbotene Wege
Menschen wie sie besaßen die Fähigkeit, das Geschehen draußen so hartnäckig zu ignorieren, daß sie schließlich selbst vergessen wurden und in Ruhe und Frieden leben konnten.
»Wie schön«, sagte Tante Marie, »ihr scheint euch entschlossen zu haben, heute einmal die Mahlzeiten mit uns gemeinsam einzunehmen.«
Hortense wurde sofort nervös, als sie John sah, und verschüttete ihren Tee.
»Hortense, paß doch auf«, tadelte Tante Marie, und Hortense senkte beschämt die Augen, als sei sie noch ein kleines Mädchen und keine Frau von über vierzig Jahren.
»Wie geht es den Verwundeten?« fragte Elizabeth.
»Es waren ja keine schweren Fälle dabei«, antwortete Tante Marie, »und die meisten sind schon in aller Frühe zu ihren Regimentern zurückgekehrt. Nur der Herr mit der Kugel im Bein ist noch hier.«
»Ah — der in Urgroßmutters Bett liegt«, vermutete John. Tante Marie verzog das Gesicht, aber Hortense kicherte, was ihr den zweiten Verweis an diesem Morgen einbrachte. Für den Rest der Mahlzeit saß sie ganz still und warf nur Elizabeth, die heute ein bezauberndes weißes Kleid trug, böse Blicke zu. Insgeheim beschloß sie, sich auch bald solch ein Kleid nähen zu lassen, aber sie rätselte noch, ob sie seinen Ausschnitt anziehend oder einfach vulgär fand.
Sie hatten das Frühstück kaum beendet, als ein Trupp Soldaten von etwa fünfzig Mann vor dem Hoftor Einlaß begehrte. Ihr Anführer, ein preußischer Leutnant, teilte den Schloßbewohnern mit, seine Leute würden sich im ganzen Haus an allen Fenstern und draußen entlang der Mauer verteilen und von dort aus gegen die Franzosen kämpfen. Hortense schrie auf, aber der Offizier beruhigte sie sogleich mit herablassender Miene. »Keine Angst, Madame, mit den Franzosen werden wir im Handumdrehen fertig! «
»Ja, so wie in Charleroi«, murmelte John, aber glücklicherweise hörte das niemand. Die Soldaten strömten sofort in alle Richtungen davon, stapften die Treppen hinauf, trampelten durch die Flure und lagerten sich in den Zimmern an den Fenstern. Sie hatten Gewehre bei sich und Bajonette und wirkten zwar entschlossen, aber auch sehr müde. Nachdem Napoleons Plan, die wichtigen Straßenkreuzungen im Tal von Ligny in seine Hand zu bekommen, durchschaut war, hatten die preußischen Truppen in zum Teil bestialischen Gewaltmärschen herbeikommen müssen. Elizabeth weinte beinahe beim Anblick ihrer rotumränderten Augen und blassen Wangen. Sie fragte einen Offizier, ob sie helfen könne, und er nickte ihr freundlich zu.
»Können Sie Gewehre laden, Madame?«
»Ja, ich glaube schon.«
»Gut, wenn der Kampf beginnt, könnten Sie versuchen, immer dort zur Stelle zu sein, wo nachgeladen werden muß. Das wäre eine große Hilfe!«
Der Vormittag schlich dahin, ohne daß etwas geschah. Es wurde immer schwüler und stickiger draußen, aber am Horizont zogen Wolken auf, und über dem Schloßgraben schossen flach die Vögel hin und her. Elizabeth fragte sich verwirrt, warum es denn nicht endlich losgehe, denn so angstvoll sie den Kampf auch erwartete, so erschien ihr die Verzögerung doch ein unheilvolles Zeichen. Von einem Offizier erfuhr sie, daß der französische Marschall Ney bei Quatre Bras den Truppen Wellingtons gegenüberstehe und Napoleon den Kampf bei Ligny wohl hinauszuziehen versuche, bis Ney seine Schlacht gegen die Engländer begonnen habe und sie damit vollauf beschäftigen würde. Einmal hörten sie im Laufe des Vormittags eine Salve Kanonenschüsse und stürzten sofort an die Fenster. Später erfuhren sie jedoch, daß in diesem Moment auf den Hügeln der Feinde Bonaparte selbst gesichtet worden war und man sofort geschossen hatte, ohne ihn zu treffen. Das geschah zur gleichen Zeit, als Wellington und Blücher sich in einer alten Mühle vor Sombreffe trafen, um die Lage zu besprechen. Wellington sicherte Blücher
seine Hilfe zu, sobald ihm das möglich sein sollte, und ritt dann zurück nach Quatre Bras, wo seine Leute in höchster Eile eine Verteidigung gegen Neys Truppen auf die Beine zu stellen versuchten.
Napoleon schien tatsächlich warten zu wollen, bis der Kampf bei Quatre Bras begann, denn als in den Mittagsstunden schwacher Kanonendonner durch die totenstille Sommerhitze herüberdrang, gab er das Zeichen zur Schlacht.
Quer durch die Felder und Wiesen hindurch marschierten französische Soldaten auf St. Amand zu, wo drei preußische Bataillone bereitstanden, und ein furchtbares Artilleriefeuer auf Ligny setzte ein, das innerhalb
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