Verbotene Wege - Link, C: Verbotene Wege
begaben sich die Mädchen hinauf in den Schlafsaal. Das Essen für sie stand dort schon bereit. Elizabeth hatte keinen Hunger und schenkte ihren Teil Belinda, die mit gutem Appetit aß.
»Ich bin sicher«, sagte sie kauend, »daß ich hier sehr glücklich sein werde!«
»Schön für dich«, entgegnete Joanna, »vielleicht wirst du Miss Brandes Liebling!«
»Ich finde sie nett!«
»Ich finde sie grausig«, warf Elizabeth ein. Sie stand am Fenster und sah hinaus in den Juliabend, dessen westlicher Himmel noch schwach vom Licht der untergehenden Sonne erhellt wurde. Das Heimweh überfiel sie erneut mit schmerzender Heftigkeit. Schon einmal war es so gewesen, damals, als sie Louisiana verlassen mußte. Warum nur schon wieder? Sie biß sich auf die Lippen und wandte sich um zu Joanna. Diese lächelte ihr sanft zu. Ihr Gesicht war im matten Kerzenschein nur schwach zu erkennen, aber Elizabeth vermochte die Zärtlichkeit darin zu erblicken, die Joanna nur ihr entgegenbrachte. Das Heimweh konnte das nicht verbannen, aber sie wußte, daß sie, wie schon Jahre zuvor, heute und immer Trost in Joanna finden würde. Solange sie bei ihr war, konnte sie sich niemals ganz verloren fühlen.
3
Elizabeths fester Wille, Zuversicht und Tapferkeit zu bewahren, wurde auf eine harte Probe gestellt. Was sie vom ersten Augenblick an geahnt hatte, erwies sich als Tatsache. Sie konnte in diesem Haus nicht glücklich sein, denn zwischen ihr und Miss Brande herrschte eine Spannung voller Feindseligkeit und Angst. Elizabeth begriff niemals, weshalb Miss Brande sie, ohne ihr irgendeine Chance zu geben, haßte und verfolgte. Jahre später meinte sie, einen Grund vielleicht darin sehen zu können, daß die alternde Miss ihre Mädchen mit glühendem Neid betrachtete und kaum fertig wurde mit der Tatsache, daß ihnen noch eine Hoffnung auf Glück und Schönheit und Liebe winkte, Kostbarkeiten, die sie selbst nie besessen, die zu ersehnen sie bereits aufgegeben hatte. Sie konnte ihre Eifersucht kaum an allen austoben, darum ließ sie Milde walten gegenüber Mädchen wie Belinda, die angstvoll um sie warben, ihre Gunst zu gewinnen suchten und sich selber noch einredeten, die Lehrerin zutiefst zu bewundern. Dann wich sie zurück vor solchen wie Joanna, die keinen Hehl daraus machten, daß sie weder Angst noch Sympathie empfanden, und ihr keck und unverfroren Widerstand leisteten. Sie begegnete ihnen mit Strenge, wußte aber, daß sie in ihnen nichts berührte, und verzichtete auf sorgfältig ausgedachte Quälereien. Dafür blieben ihr die Elizabeths, die kleinste und schwächste Gruppe. Hier stieß sie auf heftigste Furcht, zugleich aber auch auf die verzweifelte Entschlossenheit, ihr keine Bewunderung, keine Freundschaft und keine Verehrung zu gewähren. In den Augen einer Elizabeth erblickte Miss Brande flackernde Angst, daneben in fast noch größerem Maße unnachgiebigen Haß, der nie geäußert wurde, in seiner Wortlosigkeit aber aufreizender wirkte als jede schnippische Antwort Joannas.
Miss Brandes Folterungen waren von höchst subtiler Art. Sie hätte niemals zu sichtbar brutalen Waffen gegriffen. Seit Bestehen
ihrer angesehenen Schule war es kein einziges Mal vorgekommen, daß sie eine Schülerin in den dunklen Keller gesperrt oder zu Wasser und Brot verdammt hätte. Ihre Vornehmheit hinderte sie sogar daran, jemals ihre Stimme zu einem Schreien zu erheben. Die Atmosphäre ihres Hauses fiel auf durch Ruhe, Sauberkeit und Frieden.
Doch unter dem Deckmantel der Harmonie quälte sie unbarmherzig. Es gab eine bestimmte Gruppe von Mädchen, die sie zu ihren Opfern erkoren hatte, und Elizabeth gehörte sofort dazu. Auf sie konzentrierten sich Miss Brandes Angriffe der nächsten Wochen. Die anderen hatte sie bereits in den Staub getreten, so konnte ihnen eine kurze Zeit der Erholung gegönnt werden. Aber Elizabeth war neu - ein ergiebiges, weites Feld.
Miss Brandes Methode lag in der geistigen und seelischen Zerrüttung, herbeigeführt durch ein steigendes Gefühl der Wertlosigkeit und vollkommenen geistigen Minderbemitteltheit, das sie in ihren Opfern hervorrief. Die Unterrichtsstunden eigneten sich hierfür hervorragend.
Gleich in der ersten Woche mußten alle Mädchen eine Geschichte schreiben, über die »blühende Welt des Sommers«, wie Miss Brande es nannte. Joanna und Elizabeth suchten sich einen einsamen Platz auf einer sonnigen Wiese, wo sie sich hinsetzten und zu schreiben begannen. Elizabeth vertiefte sich rasch vollkommen in die
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