Verbotene Wege - Link, C: Verbotene Wege
Stimmung, die sie auf dem Papier ausbreiten wollte. Mit glühenden Wangen und zerfurchter Stirn kritzelte sie Seite um Seite, kaute am Stift und an den Fingernägeln und fuhr sich immer wieder mit den Händen in die Haare, bis sie völlig wirr um den Kopf herumstanden.
»Du hast aber schon viel«, meinte Joanna nach einer Weile bewundernd, »mir fällt gar nichts ein!«
»Wie?«
»Ach, schon gut. Darf ich mal lesen?«
Elizabeth nickte, und Joanna begann mühsam die kritzelige Schrift ihrer Freundin zu entziffern.
»O Gott«, sagte sie schließlich, »Elizabeth, das ist ja großartig! Es ist ganz wundervoll! Miss Brande wird begeistert sein!«
»Meinst du wirklich?«
»Ganz sicher. Sicher liest sie das allen vor!«
Mit vereinten Kräften stellten sie Joannas Geschichte fertig. Es klang ein bißchen trocken, aber Joanna erklärte, das sei ihr ganz gleichgültig.
»Ob es Miss Brande gefällt oder nicht, spielt gar keine Rolle«, sagte sie, »ich werde mich für die alte Krähe bestimmt nie sonderlich anstrengen!«
»Ich tu’ das auch nicht für sie. Aber für mich... ich würde mich so freuen, wenn es eine schöne Geschichte wäre!«
»Wenn Miss Brande auch nur ein bißchen Verstand hat, dann ist sie ganz entzückt!« behauptete Joanna.
Verstand hat sie, dachte Elizabeth, sie ist bestimmt nicht dumm. Sonst könnte man wohl leichter mit ihr auskommen. Sie fühlte sich glücklicher als sonst, als sie zum Haus zurückgingen. In einem der Salons trafen sie Maureen, ein sehr freundliches Mädchen, mit dem sie Freundschaft geschlossen hatten. Maureen hatte besonders unter Miss Brande zu leiden und sah immer sehr blaß aus. Häufig erwachte sie morgens mit roten Augen und übermüdetem Gesicht.
»Maureen, du mußt Elizabeths Geschichte lesen«, rief Joanna sofort, »sie ist großartig!«
Gleich darauf schob Belinda ihren Kopf durch eine Seitentür. »Schrei nicht so«, fuhr sie Joanna an, »wir arbeiten nebenan!«
»Verschwinde!« erwiderte Joanna grob. Sie fand, daß Belinda hier erst richtig unausstehlich wurde. Sie hatte vier Freundinnen gefunden, mit denen sie ununterbrochen zusammengluckte, Miss Brande anhimmelte und hinter vorgehaltener Hand über andere tuschelte. Sie schlief zu gut und aß zu viel und wurde immer dicker und rosiger.
Beleidigt zog sie sich nun zurück, wahrscheinlich, um nebenan mit ihren Kameradinnen über die schrecklich vulgäre Joanna Sheridy herzuziehen. Die regte sich darüber nicht auf. Sie wandte sich Maureen zu, die eifrig las.
»Und?« fragte sie.
»Wunderschön.«
Elizabeth strahlte.
»Dann bringe ich es gleich zu Miss Brande«, sagte sie. »Ich finde sie zwar unausstehlich, aber wenn sie meine Geschichte mag, dann käme ich vielleicht etwas besser mit ihr aus!« Sie verschwand. Joanna blickte ihr nach.
»Wenn sie sich bloß nicht alles so sehr zu Herzen nähme«, sagte sie. »Sie leidet unter der Feindschaft anderer Menschen, sogar unter der einer so widerlichen Person wie Miss Brande. Keine Bemerkung von ihr dürfte sie treffen!«
»Aber es trifft«, erwiderte Maureen, »nicht jeder ist so selbstsicher wie du, Joanna!«
Elizabeth war es später ganz rätselhaft, wie sie auch nur eine Sekunde hatte glauben können, ihre Geschichte werde Miss Brande gefallen.
Drei Tage später schritt die Lehrerin morgens steif und erhaben in das Zimmer, in dem sie ihre Schülerinnen unterrichtete. Unter dem Arm trug sie einen Stapel Papier.
»Ich glaube, heute kriegen wir unsere Geschichten zurück«, flüsterte Joanna Elizabeth zu. »Ich bin gespannt, was sie sagt!«
Miss Brande ließ sich Zeit. Sie sprach zunächst überhaupt nicht über die Arbeiten, sondern fragte nach dem Gedicht, das die Mädchen für diesen Tag hatten lernen sollen. Elizabeth duckte sich etwas tiefer. Sie lernte gern Gedichte, viele sogar nur für sich selbst und freiwillig, aber sie haßte es, sie vortragen zu müssen. Miss Brandes Gegenwart verunsicherte sie so maßlos, daß sie unweigerlich ins Stottern geriet und irgendwann abbrechen mußte. Das war ihr nun schon zweimal so gegangen, und jedesmal hatte die Lehrerin mit schmerzlichem Gesicht resigniert abgewinkt. Mit ihrer Miene allein vermochte sie es einem Menschen klarzumachen, daß sie ihn für klein und unbedeutend hielt.
Heute hatte Elizabeth Glück. Miss Brande beachtete sie überhaupt nicht, sondern nahm zuerst Maureen dran, die, abwechselnd rot und blaß werdend, aufstand und die Verse nervös herunterleierte. Miss Brande hörte mit
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