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Verbrechen ist Vertrauenssache

Verbrechen ist Vertrauenssache

Titel: Verbrechen ist Vertrauenssache Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carl Hanser Verlag
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glattrasiertes Kinn von After-shave glänzte und er das zinngraue Haar zu eleganten Wellen gebürstet hatte, stand das Frühstück im Wohnzimmer der Suite auf dem Tisch am großen Fenster mit der wunderbaren Aussicht, die Archibald allerdings ignorierte. Alle Städte waren letztlich gleich, wenn man nicht dort wohnte: eine Ansammlung hoher und niedriger Gebäude voller Menschen, denen Reverend Archibald vielleicht helfen konnte, so wie sie umgekehrt ReverendArchibald helfen konnten. Er nahm Platz, betrachtete die Spiegeleier mit Speck, die Bratkartoffeln, den Orangensaft, den Toast und den Kaffee, sprach ein tiefempfundenes »Ich danke dir, o Herr« und machte sich darüber her.
    Tina erschien zehn Minuten später, nach ihrer täglichen Verwandlung. In ihrem hellgrauen Kostüm, der weißen Bluse mit dem gerüschten Kragen und den flachen schwarzen Schuhen, mit dem zu einem Knoten aufgebundenen Haar, dem blassen, zurückhaltenden Make-up und der Hornbrille – sie war blind wie ein Maulwurf und trug die Brille überall außer im Bett, wo sie sich ganz auf ihren Tastsinn verließ – war sie nicht mehr die willige, genießerische Tina, sondern Christine Mackenzie, die Dirigentin von Reverend Archibalds Engelschor. Jetzt, da sie ihn anlächelte, waren ihre Lippen weich und sinnlich, doch wenn sie »Näher, mein Gott, zu dir« sang, kündeten sie von nichts als himmlischer Liebe. O ja, himmlischer Liebe.
    Auf Tinas Seite, ihm gegenüber, bestand das Frühstück aus einer halben Grapefruit, zwei trockenen Toastscheiben und Tee ohne Milch. Unter dem grauen Kostüm war Tina eine wohlgerundete Frau, doch diese Rundungen konnten leicht zu einer Überreife anschwellen, wie sie beide nur zu gut wussten. Tina hielt sich, wenn auch aus anderen Gründen, an eine Diät, die mittelalterliche Mönche sich zu Bußzwecken auferlegt hätten, zur Kasteiung des Fleisches und Verherrlichung Gottes, und so schaffte sie es, ihre Üppigkeit im Zaum zu halten und sich eine Figur zu bewahren, die das war, was die Jidden saftik nannten. (Die Scheißkerle hatten sogar eine eigene Sprache!)
    Von Beginn seiner geistlichen Laufbahn an hatte William Archibald verstanden, dass der Anschein von Schicklichkeit das A und O war. Der Anschein von Schicklichkeit war nichtnur ebensogut wie die Schicklichkeit selbst, sondern noch viel besser. Wenn ein einigermaßen umsichtiger Mann den Anschein von Schicklichkeit entschlossen, ja, man konnte sagen, mit religiöser Inbrunst aufrechterhielt, konnte er alles haben: sowohl den Segen des Himmels als auch die Segnungen dieser Welt. Und das war es, was er wollte: alles.
    Archibald war kein Heuchler. Er glaubte, dass der Mensch ein sündiges Wesen war, und das sprach er oft und öffentlich aus, ohne sich selbst davon auszunehmen. Er glaubte, dass seine Tätigkeit als Seelsorger so manchen Mitmenschen davor bewahrt hatte, zahllose Sünden und Verbrechen zu begehen. Er glaubte, dass sein Beitrag zum Gemeinwesen, sein zivilisierender Einfluss auf Männer und Frauen, die sich in mancherlei Hinsicht erst einen kleinen Schritt vom Affen entfernt hatten, immens und durch und durch praktischer Natur war, und er war fest davon überzeugt , dass er jeden Cent, den er einnahm, verdient hatte. Seine seelsorgerische Tätigkeit hatte Trinker zu Abstinenzlern gemacht, Ehen gerettet, Kleinkriminelle auf den rechten Weg gebracht, sie hatte zuzeiten sogar der Drogenflut Einhalt geboten, betriebliche Fehlzeiten verringert und unzähligen hohlköpfigen, nutz- und antriebslosen Einfaltspinseln Orientierung gegeben, einen Schwerpunkt, ein Gefühl der Zugehörigkeit. Und wenn er in seiner Freizeit gern eine Frau mit großem Busen vögelte – na und?
    Sie waren beinahe fertig mit dem Frühstück, als Dwayne Thorsen hereinkam. Er sah energisch und kompetent aus in seinem grauen Anzug, dem es gelang, so respektabel wie der von Archibald zu wirken, ohne mit diesem zu konkurrieren. Zwanzig Jahre lang war Dwayne im Marine Corps gewesen; er war immer noch schlank und gefährlich, und die sieben Jahre als Archibalds Assistent und rechte Hand hattendaran nichts geändert. Er hatte noch immer seinen alten Marine-Haarschnitt (das stoppelige Haar war jetzt allerdings graumeliert), bevorzugte bequeme, wenngleich hässliche schwarze Schuhe und trug eine schlichte Nickelbrille, hinter der seine blassen Augen skeptisch funkelten wie ein sehr kalter sonniger Tag in Norwegen, von wo seine Vorfahren – schmallippige, hart arbeitende Bauern – vor einem

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