Verbrechen und Strafe (Schuld und Sühne)
vorbeikommen ... Wenn ich Sie noch antreffe ...«
Er verabschiedete sich und ging.
»Was für ein prächtiger Mensch!« bemerkte Pulcheria Alexandrowna.
»Ja, ein prächtiger, ausgezeichneter, gebildeter, kluger Mensch ...« begann plötzlich Raskolnikow mit einer unerwarteten Hast und einer bisher ungewohnten Lebhaftigkeit. »Ich weiß nicht mehr, wo ich ihn vor meiner Erkrankung getroffen habe ... Ich glaube, ich bin mit ihm schon irgendwo zusammengekommen ... Auch er ist ein guter Mensch!« sagte er, mit dem Kopfe auf Rasumichin weisend. »Gefällt er dir, Dunja?« fragte er und fing plötzlich aus unbekanntem Grunde zu lachen an.
»Sehr«, antwortete Dunja.
»Pfui, was bist du für ein ... Schwein!« sagte Rasumichin furchtbar verlegen und errötend und erhob sich von seinem Stuhl.
Pulcheria Alexandrowna lächelte leise, und Raskolnikow lachte laut auf.
»Wo willst du denn hin?«
»Auch ich ... muß gehen.«
»Du mußt gar nicht, bleib nur da! Da Sossimow fortgegangen ist, mußt du auch gehen. Geh nicht weg ... Wie spät ist es denn? Ist es schon zwölf? Was hast du für eine nette Uhr, Dunja! Was schweigt ihr schon wieder? Bloß ich allein rede immer! ...«
»Es ist ein Geschenk von Marfa Petrowna«, antwortete Dunja.
»Ein wertvolles Stück«, fügte Pulcheria Alexandrowna hinzu.
»Aber so groß, fast keine Damenuhr.«
»Ich liebe gerade solche Uhren«, sagte Dunja.
– Es ist also kein Geschenk vom Bräutigam – dachte Rasumichin und wurde, er wußte selbst nicht warum, froh darüber.
»Und ich glaubte, es sei ein Geschenk von Luschin«, bemerkte Raskolnikow.
»Nein, der hat Dunjetschka noch nichts geschenkt.«
»So, so! Wissen Sie noch, Mamachen, wie ich mal verliebt war und heiraten wollte?« sagte er plötzlich mit einem Blick auf die Mutter, die über die unerwartete Wendung und den Ton, mit dem er das sagte, erstaunt war.
»Gewiß, mein Freund!«
Pulcheria Alexandrowna wechselte mit Dunjetschka und Rasumichin Blicke.
»Hm! Ja! Was soll ich euch erzählen? Ich erinnere mich kaum. Sie war ein kränkliches Mädchen,« fuhr er fort, nachdenklich und mit gesenkten Augen, »ganz krank; sie gab gern Almosen und sehnte sich nach einem Kloster. Einmal weinte sie furchtbar, als sie mir davon zu erzählen begann; ja, ja ... ich erinnere mich ... ich erinnere mich genau. Sie war ... so unschön. Ich weiß wirklich nicht, warum ich so an ihr hing ... ich glaube, weil sie immer krank war ... Wenn sie auch noch lahm oder buckelig gewesen wäre, so hätte ich sie, glaube ich, noch mehr lieb gewonnen ... (Er lächelte nachdenklich.) Es war so ... ein Frühlingstraum ...« ...«
»Nein, es war nicht bloß ein Frühlingstraum«, sagte Dunjetschka begeistert.
Er blickte die Schwester aufmerksam und gespannt an, aber er hörte sie nicht oder verstand sogar ihre Worte nicht. Dann stand er in tiefer Nachdenklichkeit auf, trat an die Mutter heran, küßte sie, kehrte auf seinen Platz zurück und setzte sich wieder hin.
»Du liebst sie auch noch jetzt!« sagte Pulcheria Alexandrowna gerührt.
»Sie? Jetzt? Ach ja ... Sie sprechen von ihr! Nein. Dies alles ist jetzt wie in einer anderen Welt ... und es ist auch so lange her. Und alles, was rings geschieht, ist, als geschähe es nicht hier ...«
Er blickte sie alle aufmerksam an.
»Auch ihr alle ... es ist, als sähe ich euch aus einer Entfernung von tausend Werst ... Weiß der Teufel, warum wir darüber sprechen! Warum soll man mich ausfragen?« fügte er ärgerlich hinzu und verstummte, an den Nägeln kauend und wieder in Nachdenklichkeit versinkend.
»Wie schlecht ist doch deine Wohnung, Rodja, sie ist wie ein Sarg«, sagte plötzlich Pulcheria Alexandrowna, das schwere Schweigen unterbrechend. »Ich bin überzeugt, daß diese Wohnung die halbe Schuld daran hat, daß du ein solcher Melancholiker geworden bist.«
»Die Wohnung? ...« antwortete er zerstreut. »Ja, die Wohnung hat viel dazu beigetragen ... ich habe auch schon selbst daran gedacht. Wenn Sie wüßten, was für einen sonderbaren Gedanken Sie eben ausgesprochen haben, Mamachen«, fügte er plötzlich mit einem seltsamen Lächeln hinzu.
Es hätte nicht viel gefehlt, und dieses Beisammensein, diese Verwandten nach dreijähriger Trennung, dieser verwandtschaftliche Ton des Gesprächs bei voller Unmöglichkeit, über etwas Bestimmtes zu sprechen, – dies alles wäre ihm schließlich ganz unerträglich geworden. Es gab jedoch eine unaufschiebbare Sache, die heute noch, so oder anders,
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