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Verbrechen und Strafe (Schuld und Sühne)

Titel: Verbrechen und Strafe (Schuld und Sühne) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fëdor Michajlovic Dostoevskij
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sich selbst, sprach es aber laut aus und blickte seine Schwester eine Weile wie betroffen an.
    Endlich entfaltete er den Brief, immer noch mit dem Ausdruck eines seltsamen Erstaunens; dann las er ihn langsam und aufmerksam zweimal durch. Pulcheria Alexandrowna war sichtbar unruhig; auch alle anderen erwarteten etwas Besonderes.
    »Es wundert mich«, begann er nach einigem Nachdenken, den Brief der Mutter zurückgebend und sich an niemand Bestimmten wendend, »er führt doch Prozesse, ist Advokat und redet auch ... mit gewissen Ansprüchen, – aber wie ungebildet er schreibt.«
    Alle rührten sich; sie hatten etwas ganz anderes erwartet.
    »Sie schreiben doch alle so«, bemerkte Rasumichin kurz.
    »Hast du es denn gelesen?«
    »Ja.«
    »Wir haben es ihm gezeigt, Rodja, wir ... haben uns früher beraten«, begann Pulcheria Alexandrowna verlegen.
    »Es ist eigentlich der Gerichtsstil«, unterbrach sie Rasumichin. »Die Gerichtspapiere werden auch heute noch so geschrieben.«
    »Der Gerichtsstil? Ja, wirklich der Gerichtsstil, ein geschäftlicher Stil. Es ist weder ganz ungebildet noch irgendwie literarisch; mit einem Worte: geschäftlich!«
    »Pjotr Petrowitsch verheimlicht gar nicht, daß er nur eine ganz primitive Bildung genossen hat, und ist sogar stolz darauf, daß er sich selbst den Weg gebahnt hat«, bemerkte Awdotja Romanowna durch den neuen Ton des Bruders etwas gekränkt.
    »Nun, wenn er stolz ist, so hat er auch Grund dazu, – ich widerspreche nicht. Mir scheint, Schwester, du fühlst dich beleidigt, weil ich aus diesem ganzen Brief einen so frivolen Schluß gezogen habe, und glaubst, daß ich die Rede mit Absicht auf solchen Unsinn brachte, um meinen Arger an dir auszulassen. Im Gegenteil, anläßlich dieses Stils fällt mir etwas ein, was in diesem Falle gar nicht unwesentlich ist. Es kommt darin der Ausdruck vor: ›die Folgen haben Sie sich dann selbst zuzuschreiben‹; dieser Ausdruck ist sehr bedeutungsvoll und klar hingesetzt, und außerdem ist eine Drohung dabei, daß er sofort fortgehen werde, wenn ich komme. Diese Drohung, fortzugehn, bedeutet die Drohung, euch beide sitzen zu lassen, wenn ihr ihm nicht gehorcht, und zwar jetzt, wo er euch nach Petersburg hat kommen lassen. Nun, wie glaubst du: kann man sich durch einen solchen Ausdruck von Luschin ebenso gekränkt fühlen, wie wenn er es geschrieben hätte (er zeigte auf Rasumichin) oder Sossimow oder sonst jemand von uns?«
    »N-n-nein«, antwortete Dunjetschka, wieder lebhaft werdend. »Ich habe sehr gut verstanden, daß es zu naiv ausgesprochen ist und daß er vielleicht bloß kein Meister im Schreiben ist ... Das hast du richtig beurteilt, Bruder, ich hätte es sogar nicht erwartet ...«
    »Es ist im Gerichtsstil geschrieben, und im Gerichtsstil kann man es gar nicht anders ausdrücken; darum ist es ihm gröber geraten, als er vielleicht wollte. Übrigens muß ich dich etwas enttäuschen: in diesem Briefe findet sich auch noch eine andere Wendung, eine gegen mich gerichtete Verleumdung, und zwar eine recht gemeine. Das Geld gab ich gestern der schwindsüchtigen und niedergeschmetterten Witwe, nicht unter dem ›Vorwande‹, daß es für die Beerdigung sei, sondern für die Beerdigung; auch nicht der Tochter, einem Mädchen, wie er schreibt, von verrufenem Lebenswandel (und die ich gestern zum erstenmal im Leben sah), sondern der Witwe. In diesem allem erblicke ich den voreiligen Wunsch, mich anzuschwärzen und mit euch zu verzanken. Ausgedrückt ist es wiederum im Gerichtsstil, das heißt mit allzu deutlich unterstrichenem Zweck und in einer höchst naiven Übereilung. Er ist ein kluger Mensch, aber um klug zu handeln, genügt die Klugheit allein noch nicht. Das alles zeigt mir den Menschen in seinem wahren Lichte, und ... ich glaube nicht, daß er dich sehr schätzt. Ich sage dir dies einzig zu deiner Belehrung, denn ich wünsche aufrichtig dein Bestes ...«
    Dunjetschka antwortete nicht; sie hatte ihren Entschluß schon vorher gefaßt und wartete nur auf den Abend.
    »Also wozu entschließt du dich, Rodja?« fragte Pulcheria Alexandrowna, durch den plötzlichen neuen geschäftlichen Ton seiner Rede noch mehr beunruhigt.
    »Was heißt das: ›Wozu entschließt du dich‹?«
    »Pjotr Petrowitsch schreibt ja, daß du heute abend bei uns nicht sein sollst und daß er fortgehen wird ... wenn du kommst. Also was denkst du ... wirst du kommen?«
    »Darüber habe nicht ich zu beschließen, sondern erstens Sie, wenn diese Forderung Pjotr

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