Verbrechen und Strafe (Übersetzung von Swetlana Geier)
Fingers. Manchmal hat er auch gute Gefühle, Bruder. Doch die Lektion, die Lektion, die du ihm heute im ›Kristallpalast‹ erteilt hast, ist der Gipfel der Vollkommenheit! Du hast ihn doch anfangs so erschreckt, daß er beinahe Krämpfe kriegte! Du hast ihn fast dazu gebracht, daß er an diesen ganzen abscheulichen Unsinn von neuem glaubte, und dann – dann zeigtest du ihm plötzlich die Zunge: ›Da hast du es!‹ Tadellos! Nun ist er erdrückt und vernichtet. Ein Meister bist du, bei Gott! So muß man auch diese Leute behandeln! Schade, daß ich nicht dabei war! So sehnsüchtig hat er dich jetzt erwartet. Auch Porfirij möchte dich kennen lernen ...«
»So ... auch er ... Und warum wollten sie mich für verrückt erklären?«
»Das heißt, nicht für verrückt. Ich habe mich, glaub ich, doch etwas verschnappt ... Es ist ihm, siehst du, vorhin aufgefallen, daß dich nur ein einziger Punkt interessiert; jetzt ist es ihm klar, warum er dich so interessiert: nachdem er alle Umstände kennt ... und wie es dich damals gereizt und sich mit deiner Krankheit verquickt hat ... Ich bin jetzt etwas betrunken, Bruder, aber er hat, hol ihn der Teufel, irgendeine eigene Idee ... Ich sage dir ja: er ist auf Geisteskrankheiten versessen. Pfeif aber darauf ...«
Eine halbe Minute lang schwiegen sie beide.
»Hör mal, Rasumichin,« begann Raskolnikow, »ich will es dir offen sagen; ich war eben bei einer Leiche, ein Beamter ist gestorben ... dort ließ ich mein ganzes Geld zurück ... außerdem hat mich ebenso ein Geschöpf geküßt, das, wenn ich wirklich jemand ermordet hätte ... mit einem Worte, ich sah dort auch noch ein anderes Geschöpf ... mit einer feuerroten Feder ... übrigens rede ich dummes Zeug; ich bin sehr schwach, stütze mich ... gleich kommt die Treppe ...«
»Was ist mit dir? Was ist mit dir?« fragte Rasumichin besorgt.
»Mir schwindelt etwas der Kopf, aber das ist es nicht; die Hauptsache ist, es ist mir so traurig, so traurig! Wie einem Weibe ... wirklich! Schau, was ist das? Schau! Schau!«
»Was ist denn los?«
»Siehst du es denn nicht? Licht in meinem Zimmer, siehst du es? In der Ritze ...«
Sie standen schon vor der letzten Treppe neben der Tür zur Wohnung der Wirtin, und man konnte wirklich von unten sehen, daß in Raskolnikows Kammer Licht brannte.
»Sonderbar! Vielleicht ist es Nastasja«, bemerkte Rasumichin.
»Niemals kommt sie um diese Zeit zu mir ins Zimmer, auch schläft sie schon längst, aber ... es ist mir ganz gleich! Leb wohl!«
»Was hast du? Ich will dich begleiten, wir gehen zusammen hinein!«
»Ich weiß, daß wir zusammen hineingehen, aber ich will dir hier die Hand drücken und mich hier von dir verabschieden! Nun, gib die Hand, leb wohl!«
»Was ist mit dir, Rodja?«
»Es ist nichts ... gehen wir ... du wirst Zeuge sein ...«
Als sie die Treppe weiter hinaufstiegen, kam Rasumichin der Gedanke, daß Sossimow vielleicht im Rechte sei. »Ach, ich habe ihn mit meinem Geschwätz aufgeregt!« murmelte er vor sich hin. Plötzlich hörten sie, als sie vor die Tür traten, Stimmen im Zimmer.
»Was ist denn hier los?« schrie Rasumichin.
Raskolnikow ergriff als erster die Klinke, öffnete die Tür weit und blieb wie angewurzelt auf der Schwelle stehen.
Seine Mutter und Schwester saßen auf seinem Sofa und warteten auf ihn schon seit anderthalb Stunden. Warum hatte er sie am allerwenigsten erwartet, warum am allerwenigsten an sie gedacht, trotz der auch heute wiederholten Nachricht, daß sie schon abreisen, unterwegs seien und jeden Augenblick eintreffen müßten? Diese anderthalb Stunden hatten sie beide Nastasja ausgefragt, die auch jetzt noch vor ihnen stand und ihnen schon alles mit allen Einzelheiten erzählt hatte. Sie waren ganz außer sich vor Schreck, als sie hörten, daß er »heute durchgebrannt« sei, krank und, wie Nastasja berichtete, ganz bestimmt im Fieber! »Mein Gott, was ist nur mit ihm geschehen!« Beide weinten, beide hatten in diesen anderthalb Stunden der Erwartung eine Kreuzespein ausgestanden.
Ein freudiger, entzückter Aufschrei begrüßte Raskolnikows Erscheinen. Beide stürzten auf ihn zu. Er stand aber wie tot da; eine plötzliche, unerträgliche Erkenntnis hatte ihn wie ein Blitz getroffen. Seine Hände konnten sich nicht erheben, um sie zu umarmen; sie konnten es nicht! Die Mutter und die Schwester erdrückten ihn in ihren Umarmungen, küßten ihn, lachten, weinten ... Er trat einen Schritt vor, schwankte und stürzte ohnmächtig zu
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