Verdammnis
zuhören. Plötzlich saß sie auf dem Rücksitz eines Polizeiautos, und es dauerte Minuten, Minuten, Minuten, fast eine Stunde, bis die Polizei endlich in die Wohnung ging und ihre Mutter fand.
Agneta Sofia Salander war immer noch bewusstlos. Sie hatte Verletzungen am Gehirn erlitten und würde nie wieder richtig gesund werden.
Lisbeth verstand auf einmal, warum niemand diesen Ermittlungsbericht gelesen hatte. Warum es Holger Palmgren nicht gelungen war, ihn zu bekommen, und warum auch Staatsanwalt Richard Ekström keinen Zugriff darauf hatte. Dieser Bericht war nicht von der normalen Polizei verfasst worden. Er war als »streng geheim« gekennzeichnet, aus Gründen der Landessicherheit.
Alexander Zalatschenko hatte für die Sicherheitspolizei gearbeitet.
Es gab keine Ermittlungen. Alles wurde vertuscht. Zalatschenko war wichtiger als Agneta Salander. Er konnte nicht identifiziert und vor Gericht gestellt werden. Zalatschenko existierte gar nicht.
Nicht Zalatschenko war das Problem, sondern Lisbeth Salander, das verrückte Kind, das eines der wichtigsten Staatsgeheimnisse zu enthüllen drohte.
Ein Geheimnis, von dem sie nicht das Geringste geahnt hatte. Sie überlegte. Zalatschenko hatte ihre Mutter fast unmittelbar nach seiner Ankunft in Schweden kennengelernt. Er hatte sich mit seinem richtigen Namen vorgestellt, weil er noch keinen Decknamen und keine schwedische Identität besaß. Das erklärte auch, warum sie seinen Namen in keinem offiziellen Melderegister gefunden hatte. Sie wusste, wie er wirklich hieß, doch er hatte vom schwedischen Staat einen neuen Namen bekommen.
Sie verstand durchaus, wo der Haken war: Wenn man Zalatschenko der schweren Körperverletzung anklagte, würde Agneta Salanders Anwalt in seiner Vergangenheit herumschnüffeln. Wo arbeiten Sie, Herr Zalatschenko? Wie heißen Sie eigentlich?
Falls Lisbeth Salander beim Sozialamt landete, würde irgendjemand Nachforschungen anstellen. Sie war zu jung, um angeklagt zu werden, aber wenn ihr Attentat mit dem Molotowcocktail allzu detailliert untersucht wurde, würde irgendjemand genauer hinsehen. Sie konnte die Schlagzeilen schon vor sich sehen. Die Ermittlungen mussten daher von einer vertrauenswürdigen Person durchgeführt, der Bericht als »streng geheim« gekennzeichnet und so tief vergraben werden, dass niemand ihn je finden konnte. Und Lisbeth Salander musste ebenfalls so tief begraben werden, dass niemand sie mehr fand.
Gunnar Björck.
St. Stefans.
Peter Teleborian.
Die Erklärungen machten sie rasend.
Lieber Staat … ich hab da was mit dir zu besprechen, falls ich irgendwann mal jemand finden sollte, mit dem ich darüber reden kann.
Sie überlegte kurz, wie es dem Sozialminister wohl gefallen würde, wenn sie einen Molotowcocktail durch den Eingang des Ministeriums warf. Doch in Ermangelung anderer Verantwortlicher war Peter Teleborian vorläufig ein guter Ersatz. Sie wollte sich um ihn kümmern, sobald die übrigen Dinge geklärt waren.
Trotzdem verstand sie immer noch nicht alle Zusammenhänge. Zalatschenko war nach all den Jahren plötzlich wieder aufgetaucht. Er lief Gefahr, von Dag Svensson an den Pranger gestellt zu werden. Zwei Schüsse. Dag Svensson und Mia Bergman. Eine Waffe mit ihren Fingerabdrücken …
Zalatschenko oder die Person, die er mit der Ausführung der Hinrichtungen beauftragt hatte, konnte natürlich nicht wissen, dass sie den Revolver in Bjurmans Schreibtischschublade gefunden und in die Hand genommen hatte. Es war reiner Zufall gewesen, aber für sie hatte von Anfang an festgestanden, dass es zwischen Bjurman und Zala eine Verbindung geben musste.
Doch die Geschichte ging immer noch nicht richtig auf. Sie grübelte und probierte nacheinander alle Puzzleteile durch.
Es gab nur eine einleuchtende Antwort.
Bjurman.
Bjurman hatte Recherchen zu ihrem persönlichen Hintergrund betrieben. Er hatte die Verbindung zwischen Zalatschenko und ihr hergestellt. Er hatte sich an Zalatschenko gewandt.
Sie besaß einen Film, auf dem zu sehen war, wie Bjurman sie vergewaltigte. Das war das Damoklesschwert, das sie eigenhändig über Bjurman aufgehängt hatte. Er musste sich eingebildet haben, dass Zalatschenko Lisbeth zwingen könnte zu verraten, wo sie den Film aufbewahrte.
Sie sprang vom Fensterbrett herunter, zog eine Schreibtischschublade auf und holte die CD heraus. »Bjurman« hatte sie mit Folienstift daraufgeschrieben. Sie hatte sie nicht einmal in eine Hülle gesteckt. Seit der Erstaufführung bei
Weitere Kostenlose Bücher