Verdammte Deutsche!: Spionageroman (German Edition)
Bewegung hält sie inne, das Nachthemd noch über den erhobenen Armen. Der Anblick erinnert sie an die Musenstatue, das gefällt ihr. Sie läßt das Nachthemd fallen, greift nach der dünnen Tagesdecke und wickelt sie sich um die Hüften, in der Art, wie die Statue ihren Rock trägt, verharrt in der gleichen Haltung, den linken Arm erhoben, und studiert ihren Körper. Die Muse vor dem Denkmal ist allerdings etwas üppiger geformt als sie. Ihre Brüste werden wohl auch nicht mehr größer werden. Und sie ist zu mager, ihre Rippen zeichnen sich deutlich ab, ihr Bauch ist flach wie der eines Knaben. Trotzdem, ein hübscher Anblick! So würde ich mich gerne zeichnen, denkt sie, aber das wird schwierig werden, ich müßte doch alle Augenblicke aufstehen und wieder vor den Spiegel treten. Sie knotet die Decke fest und schlägt ihr Skizzenbuch auf. Ohne sich hinzusetzen, wirft sie mit ein paar Bleistiftstrichen einen groben Umriß ihrer Gestalt aufs Papier, von vorn gesehen, also ohne den Obelisken. Es gelingt ganz gut, nur mit dem erhobenen Arm stimmt etwas nicht. Natürlich, die Muse lehnt sich ja an den Stein. Sie tritt wieder vor den Spiegel und ahmt die Haltung der Statue nach, jedoch so, als würde diese frei stehen. Dazu muß sie den linken Arm so ändern, daß die Hand auf ihrem Haupt ruht, die andere Hand hält den improvisierten Rock an der Hüfte fest. Ja, das sieht gut aus.
Sie setzt sich und arbeitet eifrig an der Skizze, die Unterlippe zwischen den Zähnen. Ihr Gesicht, nicht mehr vom Arm verborgen, gelingt ebenfalls gut, sie ist tatsächlich zu erkennen. Schließlich ist sie fürs erste zufrieden. Auch wird sie müde, und ihre Augen brennen ein wenig vom schlechten Licht. Sie läßt die Decke fallen, dreht das Licht ab und öffnet das Fenster weit. Dann schlüpft sie nackt, wie sie ist, ins Bett. Morgen zeichne ich es mit der Feder ab, nimmt sie sich vor. Eigentlich schade, daß ich es niemandem zeigen kann Aber das geht nicht, wo ich doch zu erkennen bin. Das Gesicht verändern will ich auch nicht, es ist mir zu gut gelungen. Sie stellt sich vor, wie es wäre, wenn Adrian das Bild sähe. Wenn sie es ihm schenken würde? Schon beim bloßen Gedanken fühlt sie, wie sie errötet. Es wäre ihr schrecklich peinlich, und zugleich ist es eine aufregende Vorstellung. Sie versucht, sich die Situation auszumalen, aber ihre Gedanken werden träge und wandern im Kreis herum, bis sie schließlich einschläft.
London, Windmill Street, 22. Juli 1911, Samstag
Seiler wischt das Rasiermesser ab, tupft sich die Schaumreste von Kinn und Wangen und zieht sich an, langsam und nachdenklich. Er hat von Vivian geträumt, aber er weiß nicht mehr, was. Er erinnert sich nur noch an ihr Gesicht im Traum, ganz nahe vor ihm, und eine leise Wehmut klingt noch in ihm nach. Er hat keine Lust auf das Frühstück mit der Wirtin und den beiden Mitbewohnern, Spiegeleier mit Speck, Bohnen und gezwungener Unterhaltung. Lieber will er rausgehen und sich ablenken. Er setzt den Hut auf, steckt Geldbörse und Zigarettenschachtel ein und verläßt das Haus.
Als Anthony Roper hat er gleich nach seiner Rückkehr von Portsmouth dieses möblierte Zimmer bezogen, das Reimers für ihn angemietet hat. Es liegt in einem dieser dreistöckigen Londoner Reihenhäuser aus schmutzigbraunen Backsteinen. Die Adresse ist 28 Windmill Street, nahe der Tottenham Court Road, knapp zwanzig Minuten zu Fuß von Petermans Buchladen. Es gehört einer schwerhörigen alten Witwe, und außer Seiler wohnen noch zwei Herren dort, beide Studenten. Im Haus gibt es einen Telephonanschluß, Reimers hat es deshalb ausgewählt, denn so kann er ihn leichter erreichen oder ihm eine Nachricht hinterlassen.
Am Sonntag vor einer Woche, nach dem Rendezvous mit Vivian, hat er sich, wie in Portsmouth vereinbart, mit Reimers getroffen. Der erzählte ihm, Widenmann werde ihn nach Schottland schicken, es stehe aber noch nicht fest, wann. Wahrscheinlich hänge das von Nachrichten über die Dislozierung der britischen Flotte ab. Während Seiler zuhörte, spielte er mit dem Gedanken, ihm von Vivian zu erzählen, ließ es dann aber sein. Reimers war ihm nicht allzu sympathisch.
Er schlendert gemächlich vor bis zur Tottenham Court Road. Hier ist die Station Goodge Street der Tube, wie die Londoner Untergrundbahn von allen genannt wird. Am Kiosk vor der Station holt er sich The Times, geht ein paar Schritte zur Seite und schlägt sie auf. An erster Stelle steht die Rede des britischen
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