Verdeckt
Reden würden sie sowieso nicht mit ihm.
Aber wenn jemand hineinmusste? Er rieb sich die kalten Hände. Es musste doch Leute geben, die drinnen irgendetwas zu tun hatten. Einen Klempner vielleicht oder einen Lieferanten.Michael betrachtete das verstaubte Schild des Ladens. Gingen die Sektenmitglieder selbst zum Einkaufen oder ließen sie sich Lebensmittel liefern? Er schüttelte den Kopf. Wahrscheinlich kauften sie selbst ein und pflanzten auch einiges im eigenen Garten an. Über irgendwelche geschäftlichen Aktivitäten der Gruppe hatte er nichts herausgefunden. Vermutlich gehörte Sparsamkeit zu ihren Glaubenssätzen.
Was brauchten sie überhaupt aus der Welt draußen?
Ein rostiger Viehtransporter fuhr vorbei. Michael lächelte. Die Tiere auf dem Grundstück hatte er vom Tor aus riechen können. Wahrscheinlich hielt die Sekte Hühner, Rinder und Hunde. Da wurde doch sicher hin und wieder ein Tierarzt benötigt. Michael ging zu dem antiquierten Münzfernsprecher an der Außenwand des Ladens. Das Telefonbuch, das dort hing, sah aus, als wäre es Mitte der 1970er-Jahre gedruckt worden. Er schnappte sich die dünne Kladde und sah unter »V« wie Veterinärmedizin nach.
Irgendwo musste er schließlich anfangen.
Irgendwo
war am Ende ein Hufschmied, etwa dreißig Minuten von der Sekte entfernt. Der Tierarzt, Jim Tipton, hatte am Telefon mit viel »Ähm« und »Tja« reagiert, als Michael erklärt hatte, was er wollte. Michael hatte seine Verbindungen mit der Polizei ein wenig offizieller klingen lassen, als sie es waren. Zum Glück erinnerte der Tierarzt sich an die DeCosta-Morde. Eigentlich wollte der Mann ihm auch gern helfen, doch er hatte Skrupel, Michael auf das Grundstück zu schmuggeln. Tipton kannte die Sekte und war auf den Oberindianer dort nicht gut zu sprechen. Aus seiner Sicht ließen die Haltungsbedingungen der Tiere zu wünschen übrig. Der Tierarzt wurde nur bei schweren Verletzungen oder lebensbedrohlichen Krankheitssymptomen gerufen.
Tipton gefiel der Lebensstil der Gruppe kein bisschen.
Er verwies Michael an einen Hufschmied namens Sam Short und meinte, der Schmied hätte eine noch schlechtere Meinung von den Leuten und wäre sicher begeistert, helfen zu können.Begeistert? Tiptons Wortwahl hallte Michael noch im Ohr, als er den Mietwagen vor dem eleganten Haus des Schmieds parkte. Dahinter lagen ein großer Stall und eine Reitbahn. Warum sollte der Mann begeistert sein?
Michael stieg aus dem Truck. Auf dem Weg zum Stall sah er sich eingehend um. Was für eine Anlage. Das Grundstück, die Gebäude, die Pferdetransporter und die Pferde – das waren Millionenwerte. Er ging zu einer Weide, lehnte sich an den Zaun und beobachtete lächelnd, wie sechs Pferde übermütig durch den Pulverschnee tobten. Ein dunkles Pferd mit zwei weißen Fesseln entdeckte Michael und trabte neugierig an den Zaun. Schnaubend untersuchte es Michaels ausgestreckte Hand. Nachdem es freundschaftlich an seinem Ärmel geknabbert hatte, rieb es den Kopf an Michaels Ellbogen. Lang und ausdauernd. Fasziniert sah Michael zu, wie das Pferd sich an ihm kratzte. Mit der freien Hand tätschelte er den Hals des Tieres.
»Wenn Sie ihn lassen, macht er das den ganzen Tag.«
Michael zuckte zusammen. Damit erschreckte er das Pferd. Es galoppierte zurück zu seinen Kameraden.
»Oder auch nicht.«
Michael musterte sein Gegenüber eingehend. Welliges schwarzes Haar, zu zwei lockeren Zöpfen zusammengebunden. Schmutzige Jeans, rote, schneeverkrustete Stiefel. Doch die fleecegefütterte, königsblaue Jacke war makellos sauber. Die Augen hatten denselben Farbton. Michael schätzte die Frau auf um die dreißig. Die Arme vor der Brust verschränkt stand sie da und maß ihn mit misstrauischen Blicken.
»Michael Brody. Jim Tipton sagte, ich würde hier einen Sam Short finden. Wissen Sie wo?« Er versuchte es mit seinem charmantesten Lächeln. Die Schwarzhaarige war ein lebhafter Farbtupfer vor dem verschneiten Hintergrund.
Hübsch.
»Sam Short?« Die forschenden Augen wurden kein bisschen weicher. »Steht vor Ihnen.«
Verspätet registrierte Michael die Stickerei auf ihrer Jacke.
Samantha Short. Shorts Pferdepension.
»Oh«, sagte er. »Wenn nicht grade tiefster Winter wäre, würde ich sagen, ich habe mich in die Nesseln gesetzt.«
Lacey nahm einen Schluck von ihrem extragroßen Latte. Sie sah die beiden Männer in der Kochnische an. Jack hatte den Vorfall im Schlafzimmer nicht mehr erwähnt und war dankenswerterweise in Jeans zum
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