Verdeckt
war.
Überlebensschuld nannte es ihr Psychiater. Diese Belastungsstörung trat häufig bei Menschen auf, die Extremsituationen durchgestanden hatten, bei denen andere gestorben waren.
Als ihr Atem sich beschleunigte, öffnete Lacey die Augen. In der Hoffnung auf ein wenig Ablenkung konzentrierte sie sich wieder auf das Aquarell.
Wie der Psychiater das Höllental genannt hatte, interessierte sie nur am Rande. Es war die dunkelste Zeit ihres Lebens gewesen. Nach der Entlassung aus dem Krankenhaus, in das sie mehr tot als lebendig eingeliefert worden war, hatte sie Tage, manchmal sogar Wochen im Bett verbracht und gegen die Alpträume gekämpft, die sie in den Wahnsinn zu treiben drohten.
Damals hatte sie sich in einer zermürbenden Zwickmühle befunden: Einerseits wollte sie schlafen, um zu vergessen, sich für alle Zeiten dem süßen Nichts überlassen. Andererseits erwachten in ihren Träumen die Schrecken zum Leben. Beruhigungsmittel hielten das Entsetzen in Schach, doch der Schlaf, den sie ihr schenkten, war alles andere als erholsam. Sie war erschöpft. Den Schutz ihres Hauses zu verlassen, kostete sie fast übermenschliche Anstrengung. Selbst ein schlichter Gang in ein Lebensmittelgeschäft erforderte langwierige mentale Vorbereitungen. Sie musste sich regelrecht selbst dazu überreden.
Ohne ihre Eltern, Freunde und Ärzte hätte sie einfach aufgehört zu essen. Die Nahrungsaufnahme war zu etwas Nebensächlichem geworden. Sie aß nicht, weil ihr Körper keinen Hunger mehr fühlte.
Weil sie losgelassen hatte, war Suzanne nicht mehr da.
Die Schuldgefühle hatten sie an einen Punkt gebracht, an dem sie begann, ihr Vicodin zu horten. Jeden Abend starrte sie diewachsende Anzahl Pillen an, betastete sie nervös, zählte sie und schichtete sie zu kleinen Häufchen. Schließlich schob sie sie zurück in das Tablettenröhrchen, schraubte den Deckel darauf und versteckte das schwere Schmerzmittel vor ihrer Mutter. Monatelang ging das so, selbst als der körperliche Schmerz bereits aufgehört hatte. Aus irgendeinem Grund hatte ihr das Wissen, dem Medikament widerstehen zu können, wenigstens den Ansatz des Gefühls zurückgegeben, dass sie ihr Leben unter Kontrolle hatte.
Exakt am Jahrestag von Suzannes Verschwinden hatte sie in die Toilette gestarrt und wie aus weiter Ferne zugesehen, wie sie das Vicodin in die Schüssel fallen ließ und wegspülte. Bis zur allerletzten Tablette. Dabei hatte sie sich richtig stark gefühlt. Sie hatte eine zweite Chance. Etwas, das vielen Menschen versagt blieb.
Danach hatte sie versucht, sich nicht mehr mit dieser dunklen Zeit zu beschäftigen – was ihr meistens ganz gut gelungen war. Bis jetzt.
Momentan hatte sie alles noch halbwegs im Griff. Ihre Nächte waren zwar die Hölle, doch die Arbeit an der zahnmedizinischen Fakultät lenkte sie ab. Sich eine Extraportion Eiscreme zu genehmigen oder mit Michael zu reden, half ebenfalls. Der Trost ihrer Mutter fehlte ihr sehr, doch sie schätzte sich glücklich, weil sie gute Freunde hatte. In manchen Nächten hätte sie Michael gern gebeten, auf ihrer Couch zu schlafen. Doch an diese psychologische Krücke wollte sie sich nicht gewöhnen. Sie würde die Sache allein durchstehen.
DeCosta war tot. Er konnte ihr nichts mehr anhaben.
Lacey hob das Kinn. Sie würde sich nicht von Ermittlungshypothesen und den Vermutungen irgendwelcher Detectives in Panik versetzen lassen. Auf keinen Fall durfte ihr Leben erneut aus dem Rhythmus geraten. Sich zu verstecken, kam deshalb nicht infrage. Sie wollte selbst bestimmen, wie ihr Alltag verlief, anstatt sich einer namenlosen Angst zu überlassen. In sämtlichen Taschen schleppte sie inzwischen Pfefferspray mit sich herum und im Haus hatte sie jetzt eine beeindruckende Alarmanlage.
Mit einem Knoten im Magen und brennenden Augen wandte sie sich abrupt von dem Aquarell ab. Viel zu spät hatte sie erkannt,dass es einen Friedhof darstellen sollte. Lacey schlang die Arme um sich, als könne sie sich so nicht nur gegen den Wind, sondern auch gegen die Erinnerungen schützen.
»Ist Ihnen kalt?«
Sie zuckte zusammen. Ihre Hand schnellte instinktiv zu ihrer Handtasche. Dann starrte sie hinauf in fragende graue Augen. Jack Harper. Die Wärme, die sie durchrieselte, vertrieb die drohenden Schatten schneller als ein XXL-Kaffee. Die Gedanken an den Tod und an Friedhöfe lösten sich auf. Sie musterte den großen Mann. Er sah gut aus. Die elegant geschnittene Hose und die dicke Jacke verbargen nicht die
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