Verderbnis
Nigel Stephenson sie geheiratet hatte, war es nicht mehr nötig gewesen, jedes Mal, wenn sie mit ihrem Namen unterschrieb, verlegen Anti-Hippie-Witze zu machen.
Aber Skye Stephenson hatte Nigel sehr viel mehr zu verdanken als nur den Namen, dachte sie, als die Lichter seines Taxis am Ende der Straße verschwanden. Sehr viel mehr. Sie hatte ihren Frieden, tollen Sex und tolles Kuscheln, wann immer sie wollte. Ein schönes Haus hatte sie auch, dachte sie, als sie sich den Morgenmantel fester um die Schultern zog und über den Gartenweg zur offenen Haustür zurückging: ein viktorianisches Einfamilienhaus mit Erkerfenstern und einem Vorgarten voller Pfingstrosen, ein Haus, in dem sie sich daheim fühlte. Die Fenster mussten erneuert werden, und vor dem nächsten Winter würden sie wahrscheinlich eine neue Heizung einbauen müssen, aber genau so stellte sie sich das Heim einer Familie ja vor. Sie schaute noch einmal die Straße entlang und lächelte. Dann schloss sie die Tür hinter sich und legte die Kette vor, denn er würde jetzt zwei Tage auf Geschäftsreise sein; die Tür konnte man von der Straße aus nicht sehen, und das gab ihr manchmal ein vages unsicheres Gefühl.
Sie schob das Zugluftpolster mit der Fußspitze an seinen Platz, damit die kalte Luft nicht unter der Tür hindurch eindringen konnte.
Die Nähte waren inzwischen verheilt, und Skye konnte sich wieder wie ein normaler Mensch bewegen. Seit zehn Tagen trug sie keine Binden mehr. Trotzdem ging sie aus Gewohnheit immer noch langsam die Treppe hinauf, denn körperlich fühlte sie sich noch ein bisschen angeschlagen. Ihre Brüste schmerzten ständig und tröpfelten bei der kleinsten Berührung. Manchmal, dachte sie, brannte sie mehr als Charlie darauf, endlich mit dem Stillen anzufangen.
Sie watschelte durch den langen, kalten Korridor zum Kinderzimmer, blieb in der Tür stehen und betrachtete ihn ein Weilchen. Er lag auf dem Rücken und schlief fest, die Arme erhoben, den Kopf zur Seite gedreht. Sein Mund machte kleine, saugende Bewegungen. Charlie, das größte und wichtigste Geschenk, das sie Nigel zu verdanken hatte. Sie trat an das Bettchen und sah lächelnd auf ihn hinunter. Wenn es nach ihr ginge, würde sie Charlie in ihrem Bett schlafen lassen. Es wäre einfacher, ihn zu beruhigen, wenn er aufwachte. Sie könnte einen Arm um seinen Kopf legen und eine Brustwarze in den schläfrigen Mund schieben. Aber die Brigade der Krankenschwestern, Verwandten und Ratgeberbücher zur Kindererziehung hatten die Oberhand gewonnen und sie daran erinnert, dass sie das Produkt einer Hippie-Familie war, und wenn sie ihm jetzt keine Grenzen setzte, würde Charlie niemals wissen, welches Bett ihm und welches Mum und Dad gehörte. Er würde sein Leben lang unter Trennungsängsten leiden.
»Aber jetzt mal ein paar Minuten werden sicher nicht schaden, oder, mein kleiner Spatz? Versprichst du mir, dass du nachher wieder brav zurückgehst?«
Sie hob ihn aus dem Bettchen und war dankbar, dass sie das Ziehen der Nähte nicht mehr spürte. Sie legte ihn über die Schulter und hüllte ihn in die Decke. Dann schmiegte sie eine Hand um seinen winzigen, warmen Kopf, die andere um seinen Po und tappte vorsichtig – manchmal hatte sie schreckliche Angst, sie könnte vielleicht stolpern und ihn fallen lassen – nach nebenan in ihr und Nigels Schlafzimmer an der Vorderseite des Hauses. Sie stieß die Tür mit dem Fuß hinter sich zu und setzte sich auf das Bett. Es brannte kein Licht, aber die Vorhänge waren offen, und die Straßenlaterne am Ende der Einfahrt erhellte das Zimmer mit ihrem gelben Schein.
Vorsichtig, um Charlie nicht zu wecken, legte sie ihn aufs Bett und schnupperte an seinem Hinterteil. Nichts. Sie öffnete die Druckknöpfe an den Beinen seines Schlafanzugs und schlängelte einen Finger unter die Windel. Feucht.
»Windel wechseln, kleiner Mann.«
Ein wenig mühsam kam sie wieder auf die Beine und trug ihn zu der Wickelkommode am Fenster. Sie war ein ziemliches Monstrum in Grün und Orange, mit einem Gurt zum Anschnallen und zahllosen Schubladen für saubere und schmutzige Windeln, Wischtücher und Cremes. Skyes Kollegen hatten ihr das Möbel geschenkt. Sie fand, dieses Geschenk zeugte von einem liebevollen Gefühl für Babys, nicht eben typisch für männliche Anwaltskollegen, mit denen sie zusammenarbeitete. Wahrscheinlich dachten sie, Charlies Ankunft kündige das Ende ihrer Karriere als Scheidungsanwältin an.
Vielleicht hatten sie recht, dachte sie,
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