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Verderbnis

Titel: Verderbnis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mo Hayder
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vertraute Klink-klink-Klink eines Steinchens, das durch den Luftschacht nach unten fiel. Ein Klatschen im Wasser. Sie drehte den Kopf zur Seite und verharrte mit halb offenem Mund und klopfendem Herzen. Vorsichtig schob sie den Chemikalienklumpen zurück in den Rucksack. Und dann, fast als hätte sich der, der da draußen war, verstohlen heruntergeschlichen, hörte sie das Kreischen des Eisengitters, das unter dem Gewicht eines Menschen nachgab, und das Plätschern von Wasser. Zweimal. Dreimal.
    Absolut lautlos glitt sie von dem Sims ins Wasser. Sie stützte sich mit einer Hand an der Bordwand ab und schob sich langsam zur anderen Seite des Kahns. Ab und zu kam das Schwächegefühl zurück; dann wartete sie, atmete lautlos durch den Mund und kämpfte das übelkeiterregende Schwanken mühsam nieder. Zwei Handbreit vor dem Loch machte sie Halt und lehnte sich mit dem Rücken an die Wand, um hinauszuspähen. Der Tunnel schien leer zu sein. Mondlicht fiel herein. Aber an der Wand gegenüber schwang das Seil hin und her. Sie hielt den Atem an. Lauschte.
    Eine Hand mit einer Taschenlampe kam durch das Loch. Sie fuhr zurück.
    »Flea?«
    Sie fand ihr Gleichgewicht wieder und atmete schwer.
    Prody? Sie tastete nach der Helmlampe, die an ihrem Hals hing, packte sie, schob sie durch das Loch hinaus, trat vor und leuchtete ihm ins Gesicht. Er stand knietief im Wasser und blinzelte sie an. Sie ließ alle Luft auf einmal aus der Lunge entweichen.
    »Ich dachte, Sie sind tot.« Tränen stiegen ihr in die Augen, und sie legte einen Finger an die Stirn. »Scheiße, Paul. Ich dachte wirklich, er hätte Sie erwischt. Ich dachte, Sie sind tot.«
    »Ich bin nicht tot. Ich bin hier.«
    » Fuck , fuck , fuck .« Eine Träne lief ihr über die Wange. » Fuck , das ist entsetzlich.« Sie wischte die Träne weg. »Paul – kommen die andern? Ich meine, im Ernst, ich muss endlich hier raus. Ich habe ziemlich viel Blut verloren, und es wird allmählich …« Sie brach ab. »Was ist das?«
    Prody hielt einen großen, in Plastik eingewickelten Gegenstand in den Händen.
    »Was? Das hier?«
    »Ja.« Mit zittriger Hand wischte sie sich die Nase ab und richtete die Lampe auf das Paket. Es hatte eine merkwürdige Form. »Was haben Sie da?«
    »Eigentlich nichts weiter.«
    »Nichts?«
    »Wirklich. Nichts weiter. Ich war in meiner Garage.« Er wickelte das Plastik auseinander und legte es vorsichtig auf das Geröll unter dem Seil. Darin lag ein Winkelschleifer. »Ich dachte, damit kann man Sie herausholen. Akkubetrieben.«
    Sie starrte das Werkzeug an. »Haben Sie den Auftrag, mich hier …?« Sie hob den Blick und schaute ihn an. Er schwitzte. Und der Schweiß war nicht in Ordnung. Die Flecken zogen sich in langen Spuren wie Finger über sein Hemd. Die giftigen Würmer in ihren Eingeweiden fingen wieder an zu zucken. Er hatte die Kollegen alarmiert, war dann den ganzen Weg nach Hause gefahren, um den Winkelschleifer zu holen, und die Rettungsmannschaft war noch nicht hier? Sie leuchtete ihm ins Gesicht. Er sah sie mit festem Blick an. Seine Zähne schimmerten zwischen den leicht geöffneten Lippen.
    »Wo sind die andern?«, murmelte sie wie abwesend.
    »Die andern? Oh – die sind unterwegs.«
    »Die haben Sie allein herkommen lassen?«
    »Warum nicht?«
    Sie schniefte. »Paul?«
    »Ja?«
    »Woher wussten Sie, durch welchen Luftschacht Sie herunterkommen mussten? Es gibt dreiundzwanzig Stück.«
    »Hm?« Er schob ein Bein vor, legte den Winkelschleifer auf den Oberschenkel und begann, eine Scheibe daran zu befestigen. »Ich hab am westlichen Ende angefangen und bin in jeden geklettert, bis ich Sie gefunden habe.«
    »Nein, das glaube ich nicht.«
    »Hm?« Er hob den Kopf und sah sie mild an. »Wie bitte?«
    »Nein. Wenn Sie auf dieser Seite anfangen, sind es neunzehn Schächte. Ihre Hose war sauber. Als Sie herunterkamen, war Ihre Hose sauber.«
    Prody ließ den Winkelschleifer sinken und lächelte spöttisch. Der Augenblick zog sich in die Länge, und sie starrten einander schweigend an. Dann fuhr er wortlos fort, die Scheibe zu montieren, als hätte überhaupt keine Kommunikation zwischen ihnen stattgefunden. Er drehte die Scheibe fest, und als er sich vergewissert hatte, dass sie gut saß, richtete er sich auf und lächelte wieder.
    » Was ist ?«, flüsterte sie. » Was ?«
    Er wandte sich ab und ging weg, aber sein Kopf war gespenstisch nach hinten gedreht, sodass er sie weiter im Auge behalten konnte. Bevor sie wusste, was hier geschah,

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