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Verderbnis

Titel: Verderbnis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mo Hayder
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verschwand er aus ihrem Blickfeld und ging auf die andere Seite der Schute. Im nächsten Moment herrschte Stille im Tunnel.
    Sie knipste ihre Lampe aus. Es war stockdunkel, und mit klopfendem Herzen taumelte sie zwei Schritte rückwärts, drehte sich ratlos um sich selbst und überlegte verzweifelt, was sie tun solle. Fuck, fuck, fuck. Prody? Etwas in ihrem Kopf krampfte sich zu einem Knoten zusammen, und ihre Beine verwandelten sich in Säulen aus Sand. Am liebsten hätte sie sich hingesetzt. Prody ? Ernsthaft! Prody ?
    Etwa drei Schritte weit links von ihr hörte sie das Geräusch eines Elektromotors. Ein Heulen, das seine Krallen in ihren Kopf schlug. Der Winkelschleifer. Verwirrt tat sie einen Schritt zur Seite und ruderte mit dem Arm, um sich irgendwo festzuhalten. Sie prallte gegen den Rucksack, der wie verrückt hin- und herschwang. Die Scheibe des Winkelschleifers biss mit schrillem Kreischen in das Metall. Durch das Bullauge sah sie die sprühenden Funken, die den Tunnel beleuchteten wie ein Feuerwerk.
    » Aufhören !«, schrie sie. »Aufhören!«
    Prody antwortete nicht. Die Scheibe des Schleifers drang halbkreisförmig mit einem Streifen Mondlicht durch die Bootswand. Auf halbem Weg zwischen ihr und der Luke fraß sie sich langsam abwärts durch die Wand, ungefähr zwanzig Zentimeter weit, und traf dann auf ein hartes Hindernis. Die Maschine bockte, ratterte wie verrückt und spuckte Funken in die Luft. Irgendein Splitter schwirrte durch den Kahn, prallte ab und platschte im Dunkeln ins Wasser. Die Scheibe drehte sich weiter und fraß sich wieder in das Metall, aber etwas stimmte nicht mehr. Der Motor stotterte, rotierte mahlend an der Eisenplatte, wimmernd und immer langsamer, bis er erstarb. Es war still.
    Auf der anderen Seite fluchte Prody leise. Er zog die Scheibe aus der Wand und hantierte eine Zeit lang an der Maschine herum. Flea lauschte, fast ohne zu atmen. Er schaltete den Motor wieder ein, aber wieder stotterte und hustete er, wimmerte und kam bebend zum Stehen. Der schadhafte Elektromotor verströmte einen beißenden Geruch nach verbranntem Fisch, der in den Bootsrumpf drang.
    Ein verirrter Satz kam ihr mit einem Mal in den Sinn. Ich habe ein kleines Mädchen gesehen, das durch die Windschutzscheibe geschleudert wurde. Nicht angeschnallt. Hat die letzten sieben Meter auf dem Gesicht zurückgelegt. Das hatte Prody in der Nacht gesagt, als er sie den Alkotest machen ließ. Im Rückblick hatte die Art, wie er es sagte, etwas Unheimliches gehabt. Einen genussvollen Unterton. Prody? Prody? Prody ? Ein Detective der MCIU ? Der Typ, den sie mit seiner Sporttasche über der Schulter aus dem Fitnessraum hatte kommen sehen? Sie dachte an den Augenblick im Pub – wo sie ihn angesehen und gedacht hatte, zwischen ihnen könne etwas passieren.
    Plötzlich war es draußen ruhig. Sie hob den Kopf und schaute mit tränenden Augen aus dem Loch. Nichts. Dann hörte sie ungefähr zwanzig Meter weiter hinten ein Platschen. Sie straffte sich und wartete auf das Sirren des Winkelschleifers. Stattdessen verklangen seine Schritte, als ginge er bis zum Ende der Kammer an der hinteren Einbruchstelle.
    Unbeholfen wischte sie sich über den Mund und schluckte den sauren Geschmack hinunter. Sie achtete darauf, dass sie sich nicht zu hastig bewegte, damit ihr nicht gleich wieder schwindlig wurde, als sie sich vorsichtig auf den Sims kniete. Sie umklammerte den Rand des Bullauges an der Steuerbordseite, hielt sich fest und spähte hinaus.
    Der Teil des Tunnels, der sich bis zum Einbruch erstreckte, war von dieser Seite der Schute aus zu sehen. Das Wasser im Kanal glänzte matt. Der Mond war weitergezogen und schien jetzt senkrecht in den Schacht. Die Wände rückten in übelkeiterregenden Winkeln zusammen, aber sie konnte Prody deutlich sehen. Fünf, sechs Meter weit entfernt. Fast im Dunkeln. Konzentrier dich, befahl ihr erschöpfter Geist. Schau hin. Was er da tut, ist wichtig.
    Er war jetzt ein gutes Stück weiter hinten in der Kammer, am Rand des Tunnels, wo der Wasserpegel im Lauf der Jahre so weit gesunken war, dass ein Streifen des Grundes, ungefähr ein Meter breit, trockengefallen war – ein Pfad, der sich den ganzen Kanal entlangzog: Sie hatte ihn am Dienstag zusammen mit Wellard benutzt. Prody wandte ihr die Seite zu. Sein Hemd war verdreckt vom schwarzen Kanalwasser, sein Gesicht im matten Licht nicht sichtbar, aber er betrachtete etwas, das er in der Hand hielt. Marthas Schuh. Er schob ihn in die Tasche

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