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Verderbnis

Titel: Verderbnis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mo Hayder
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als sie den Strampelanzug aufknöpfte. Der Gedanke, wieder arbeiten zu gehen, brachte sie in letzter Zeit zum Weinen. Ihr graute nicht nur vor den langen Arbeitstagen oder dem boshaften Tratsch, sondern davor, ihr Leben lang mit den menschlichen Grausamkeiten konfrontiert zu sein, als hätte Charlies Geburt ihr die Schutzschicht geraubt. Sie glaubte nicht, dass sie noch einmal in der Lage sein würde, die menschliche Natur in ihrem rohesten Zustand zu ertragen – der Vorwurf von Kindesmisshandlung, der Groll, die gegenseitigen Vorwürfe und der unerbittliche Kampf eines jeden für sich . In wenigen Wochen war ihr Glaube an ihren Beruf verflogen.
    »Hey, kleiner Kerl.« Sie lächelte auf Charlie hinunter. Er war halb aufgewacht, bewegte die kleinen Fäuste auf und ab und öffnete den Mund, um zu weinen. »Nur ein Windelwechsel. Dann schmusen wir, und anschließend geht’s wieder ab in dein blödes Bettchen.« Aber dann blieb er doch ruhig, und sie konnte problemlos die Windel wechseln. Sie zog ihn wieder an, legte ihn aufs Bett und schüttelte die Kissen auf. »Jetzt hört gut zu, kleiner Mann. Du darfst dich nicht an Mummys Bett gewöhnen. Sonst kommen die bösen Männer und holen Mummy ab.«
    Sie streifte die Pantoffeln von den Füßen, zog den Morgenmantel aus und kroch auf allen vieren zu ihm ins Bett. Vielleicht, dachte sie, würde er ganz aufwachen und trinken wollen, aber das tat er nicht. Nach einer Weile hörte er auf, Arme und Mund zu bewegen. Seine Augen schlossen sich, und sein Gesicht erschlaffte. Sie legte sich auf die Seite, schob eine Hand unter ihre Wange und sah ihm beim Schlafen zu. Kleiner Charlie. Kleiner Charlie, ihr Ein und Alles.
    Im Schlafzimmer war es still. Das Licht der Straßenlaterne wurde an verschiedenen Stellen im Zimmer reflektiert: von einem Glas Wasser auf dem Nachttisch, vom Spiegel, von einer Reihe Nagellackfläschchen oben auf einem Bord. All das schimmerte matt im Licht. Aber im Zimmer blinkte noch etwas. Hoch über ihrem Kopf, zwischen den zierlichen Schnörkeln der Stuckrosette unter der Decke, saß eine winzige, runde Glaslinse. Das unermüdliche, niemals schlafende Auge einer Überwachungskamera.

66
    Bäng . Die Schute erbebte. Das Kreischen von rostigem Metall hallte durch den Tunnel. Bäng .
    Prody stand nicht mehr im Wasser. Er war auf das Deck des Kahns geklettert und rüttelte an der Seilwinde, um sie von der Luke wegzubewegen. Flea stand einen Meter tief unter ihm und starrte zu ihm hinauf. Bei jeder seiner Bewegungen verdunkelte er das Mondlicht, das in gekreuzten Streifen durch die Balken fiel. Sie schloss die Augen. Ein harter Knoten lag in ihrem Magen: Es war der Gedanke an Marthas Schuh. An ihr Grab und an den Winkelschleifer. Wie der Motor sich festgefressen hatte. Weshalb? Und was war in diesem Sandwich gewesen? Es gab nichts mehr, was sie Prody nicht zutraute. Nichts .
    Sie öffnete die Augen, drehte den Kopf und schaute zu der Luke im Schott und dann hinauf zu dem Leinenfach. Sie hatte keine Zeit, einfach herumzusitzen. Sie musste –
    Über ihr hörte Prody auf, an der Seilwinde zu rütteln.
    Es war still. Sie starrte auf die Umrisse der Luke und hielt den Atem an. Nach einer langen Pause ließ er sich schwer auf das Deck fallen, sodass sich die mondhellen Umrisse der Luke verdunkelten. Er lag direkt über ihr, zum Greifen nah, aber getrennt durch die Deckplanken. Sie hörte ihn atmen. Hörte das Rascheln seiner Fleecejacke und wunderte sich, dass sie sein Herz nicht klopfen hörte.
    »Oh, sieh doch! Ich kann deinen Kopf erkennen.«
    Sie zuckte zusammen und presste sich so fest an die Wand, wie sie konnte.
    »Ich kann dich sehen . Was ist los? Du bist plötzlich so still.«
    Sie legte die Finger an die Schläfen, fühlte den Puls dort, verzerrte das Gesicht und versuchte, diesen Irrsinn zu begreifen. Als sie nicht antwortete, schob er seinen Mund an die Fuge bei der Luke. Sein Atem veränderte sich und wurde hechelnd. Er masturbierte – oder tat so. Der Knoten in ihrem Magen verhärtete sich, und sie dachte an ein kleines Mädchen, das wahrscheinlich gar nicht wusste, was Sex war, und schon gar nicht, warum ein erwachsener Mann so etwas mit einem kleinen Kind tun wollte. Sie dachte an ein kleines Kind – oder das, was davon übrig war –, das da drüben in einem Grab lag. Über ihr fing Prody an zu schnüffeln, und dann klang es, als saugte er die Wangen ein. Ein Tropfen Flüssigkeit sickerte durch die Fuge und blieb dort hängen. Speichel oder

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