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Verderbnis

Titel: Verderbnis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mo Hayder
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Wie gesagt, Boss, vielleicht sollten Sie es lesen.«

11
    D er Mann kauerte am Rand seines Lagers; der Feuerschein ließ sein schmutziges Gesicht und seinen Bart rot leuchten. Caffery saß ein paar Schritte weit entfernt und beobachtete ihn. Es war schon seit vier Stunden dunkel, aber der Mann buddelte noch immer in der gefrorenen Erde herum, um eine Zwiebel zu pflanzen. »Es gab einmal ein Kind«, sagte er und schaufelte noch ein wenig Erde zur Seite, »ein Kind namens Crocus. Crocus war ein Mädchen mit goldenen Haaren. Sie liebte violette Kleider und Schleifen.«
    Caffery hörte schweigend zu. Er kannte den Landstreicher, den die Einheimischen den »Walking Man« nannten, noch nicht lange, aber in dieser kurzen Zeit hatte er gelernt zuzuhören und nicht zu fragen. In dieser Beziehung war er der Schüler und der Walking Man der Lehrer, der bei ihren Begegnungen über fast alles entschied: worüber sie sprachen und wo und wann sie sich trafen. Sechs lange Monate war es her, seit sie sich das letzte Mal gesehen hatten Caffery hatte ihn in dieser Zeit vielleicht zwanzigmal gesucht. In langen, einsamen Nächten war er gemächlich über die kleinen Landstraßen gefahren und hatte den Hals gereckt, um über die Hecken zu schauen. Und heute Abend, kaum dass er mit der Suche begonnen hatte, war das Lagerfeuer auf dem Feld aufgeflammt wie ein Leuchtsignal. Als wäre der Walking Man die ganze Zeit da gewesen, hätte Cafferys Bemühungen amüsiert verfolgt und nur auf den richtigen Augenblick gewartet.
    »Eines Tages«, fuhr der Walking Man fort, »wurde Crocus von einer Hexe geraubt und dazu verdammt, zwischen den Wolken zu leben, wo ihre Eltern nicht mit ihr sprechen und sie nicht sehen konnten. Sie wissen heute noch nicht, ob sie noch lebt, aber in jedem Frühling an ihrem Geburtstag richten sie den Blick gen Himmel und beten, dies möge der Frühling sein, in dem ihnen ihr Kind zurückgegeben wird.« Er klopfte die Erde um die Zwiebel herum fest und träufelte ein bisschen Wasser aus einer Plastikflasche darauf. »Es ist ein Akt des Vertrauens, immer weiter zu glauben, dass ihre Tochter noch da ist. Können Sie sich vorstellen, wie es für sie gewesen sein muss, niemals mit Sicherheit zu wissen, was mit ihrer Tochter geschehen ist? Ob sie lebt oder tot ist?«
    »Die Leiche Ihrer Tochter wurde nie gefunden«, sagte Caffery. »Sie wissen, wie es für Sie gewesen ist.«
    »Man hat Ihren Bruder auch nicht gefunden. Das macht uns zu Zwillingen.« Der Walking Man lächelte. Im Mondlicht leuchteten seine Zähne ebenmäßig, sauber und gesund in seinem geschwärzten Gesicht. »Gleich und Gleich.«
    Gleich und Gleich? Zwei Männer hätten unterschiedlicher nicht sein können. Der schlaflose, einsame Polizist und der schmutzige Obdachlose, der den ganzen Tag unterwegs war und niemals zweimal am selben Ort nächtigte. Aber es stimmte, sie hatten Gemeinsamkeiten, zum Beispiel die gleichen Augen. Wenn Caffery den Walking Man anschaute, sah er erstaunt in seine eigenen blauen Augen. Doch noch wichtiger war, sie hatten eine Geschichte gemeinsam. Caffery war acht gewesen, als sein älterer Bruder Ewan aus dem Garten der Familie in London verschwand. Der alternde Pädophile Ivan Penderecki, der auf der anderen Seite der Bahngleise wohnte, war der Schuldige; daran hatte Caffery keinen Zweifel, aber man hatte Penderecki nie angeklagt oder verurteilt. Die Tochter des Walking Man war fünfmal vergewaltigt worden, bevor Craig Evans, ein nichtsesshafter Straftäter, auf Bewährung in Freiheit, sie ermordet hatte.
    Craig Evans hatte nicht so viel Glück gehabt wie Penderecki. Der Walking Man, in jenen Tagen ein erfolgreicher Geschäftsmann, hatte Rache genommen. Jetzt saß Evans in einem Rollstuhl in einer Langzeitpflegeeinrichtung in Worcestershire, in der Heimat seiner Familie. Der Walking Man war bei den Verletzungen, die er ihm zugefügt hatte, sehr präzise vorgegangen. Evans besaß keine Augen mehr, mit denen er Kinder beobachten, und keinen Penis, mit dem er sie vergewaltigen konnte.
    »Ist es das, was Sie anders macht?«, fragte Caffery. »Was Sie befähigt zu sehen?«
    »Sehen? Was bedeutet das?«
    »Sie wissen, was ich meine. Sie sehen . Sie sehen mehr, als andere sehen.«
    »Übernatürliche Fähigkeiten, meinen Sie.« Der Walking Man schnaubte. »Reden Sie keinen Unsinn. Ich lebe hier draußen, lebe von der Erde wie ein Tier. Ich existiere, ich absorbiere. Meine Augen sind weiter offen, und mehr Licht fällt hinein. Aber das macht

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