Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Verderbnis

Titel: Verderbnis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mo Hayder
Vom Netzwerk:
dem Wagen, der in der Zufahrt stand, ihren Ausweis und knipste ihre Taschenlampe an. Der Pfad durch den Kiefernwald sah hell, beinahe leuchtend gelb im Lichtstrahl aus. Die Reifenspuren des Yaris waren von schlaff herabhängenden Absperrbändern umgeben, und überall im Boden steckten die kleinen Markierungsfähnchen der Spurensicherung. Sie ging daran vorbei und durch die Lichtkreise der Halogenlampen, die den Holzplatz beleuchteten, vorüber an Förderbändern, Sägen und Holzspaltmaschinen, die jetzt still und schattenhaft dastanden. Sie lief immer weiter, bis sie das Gelände der stillgelegten Fabrik erreichte.
    Flea war schon zu Hause gewesen; sie hatte gejoggt, geduscht, gegessen, Radio gehört und gelesen. Aber sie konnte sich nicht entspannen, konnte nicht aufhören, sich zu fragen, was da bei der Suche gewesen war, das jetzt immer noch in ihrem Kopf herumspukte. Wenn Dad noch gelebt hätte, hätte er gesagt: Du hast einen Stachel im Kopf, Kind. Zieh ihn lieber heraus, statt ihn steckenzulassen, denn sonst wird er vielleicht giftig .
    Sie ging bis zum Rand der Bäume, dahin, wo das Feld begann und Wellard gestanden hatte. Sie fand den Teil gesäuberten Bodens, der abgesucht worden war, und den Streifen Müll, der aussah wie die Grenzlinie aus Treibgut an einem Strand, wenn die Flut zurückweicht. Sie drehte den Kopf der Taschenlampe auf die Mitte zwischen Punkt- und Streulicht, richtete sie auf den Müll und versuchte, die Bilder des Vormittags heraufzubeschwören.
    Was immer sie da beschäftigte, war ihr aufgefallen, nachdem sie den Tank abgesucht hatten. Sie hatte drüben neben dem Tank gestanden und mit einem Sergeant der anderen Teams darüber gesprochen, wann ihre Schicht zu Ende wäre und wie viele Leute sie zur Verfügung hätten, wenn sie Überstunden machten. Die Teams um sie herum suchten immer noch. Wellard hatte sich hier drüben am Rand des Feldes aufgehalten. Sie erinnerte sich, dass ihr Blick beiläufig auf ihn gefallen war, während sie mit dem Sergeant sprach. Er hatte etwas im Gras gefunden und redete mit dem Chef der Spurensicherung darüber. Flea hatte sich auf das konzentriert, was der Sergeant zu ihr sagte, und Wellard und den Cheftechniker nur mit halbem Auge beobachtet. Aber jetzt sah sie es klar und deutlich vor sich, was Wellard in der Hand hielt: ein Stück Seil, blaues Nylon, vielleicht dreißig Zentimeter lang. Das Seil selbst war aber nicht das, was sie meinte – sie hatte es später auf dem Asservatentisch liegen sehen und fand es wenig bemerkenswert –, doch etwas daran hatte eine spezielle Gedankenkette in Gang gesetzt.
    Sie lief zu dem alten Wassertank, neben dem sie gestanden hatte, und knipste die Lampe aus. Sie wartete reglos ein paar Augenblicke, umgeben von den riesigen Schatten der winterlichen Bäume. Die gepflügten Felder dahinter erstreckten sich bis zum Horizont. Irgendwo rechts in der Ferne hörte sie das ratternde Geräusch eines Zugs der Great Western Union Railway, der dort durch die Dunkelheit raste. Flea besaß einen Computer zu Hause, der sie verrückt machte, weil er immer ein leises Knistern von sich gab, kurz bevor ihr Telefon klingelte. Sie wusste, was das war – elektromagnetische Ströme, die versuchten, die Lautsprecherkabel als Antenne zu kapern –, aber ihr schien, als hätte der Computer prophetische Fähigkeiten, eine unsichtbare Verbindung in die Zukunft. Wellard würde lachen, wenn sie es ihm erzählte, aber manchmal stellte sie sich vor, sie habe ein ganz ähnliches elektromagnetisches Vorwarnsystem: einen biologischen Summer, der die Härchen an ihren Unterarmen aufrichtete, kurz bevor ein Gedanke oder eine Idee einrastete. Als sie jetzt auf dem eisigen Feld stand, spürte sie es auch. Einen elektrischen Strom, der über ihre Haut floss, eine Sekunde, bevor die Erkenntnis in ihrem Kopf Gestalt annahm.
    Wasser. Bei dem Anblick des Seils hatte sie an Boote gedacht, an Yachthäfen und Wasser .
    Am Morgen hatte sich dieser Gedanke so schnell verflüchtigt, wie er gekommen war; der andere Sergeant hatte mit ihr gesprochen, und hier befand sich weit und breit kein Wasser: Also hatte sie es verdrängt. Aber später hatte sie Zeit zum Nachdenken gehabt, und ihr war klar geworden, dass sie sich geirrt hatte. Hier gab es Wasser, und zwar ganz in der Nähe.
    Langsam drehte sie sich um und schaute in Richtung Westen, wo die niedrige Wolkendecke von den Lichtern einer Stadt oder Schnellstraße schwach orangegelb leuchtete. Sie ging los. Wie ein

Weitere Kostenlose Bücher