Verdi hören und sterben: Ein Roman aus Venedig und dem Veneto (German Edition)
raffinierten Rolltechnik die Tischdecke. Sobald diese Prozedur beendet war, nahm er die Würfel aus der Jackentasche und rollte sie zwischen den Handflächen, wobei er sie leicht anblies. Er schloss die Hände zu einem Hohlkörper, versteckte sie unter dem Tisch und schüttelte sie dreimal. Dann hob er sie langsam über die Tischkante und ließ die Würfel aus geringer Höhe auf die Tischdecke neben seinen Teller gleiten. Zwei Zweier und ein Dreier, macht summa summarum sieben. Es schien ganz so, als ob er das Abendessen alleine beenden würde. Dafür blieb ihm aber auch eine mehr als wahrscheinliche Abfuhr erspart. Er nahm die Würfel in die rechte Hand. Ein Blick zur blonden Frau zeigte ihm, dass sie von den diskreten Vorgängen an seinem Tisch nichts mitbekam. Erneut rollte er die Würfel zwischen den Handflächen. Das Ritual wiederholte sich, die Würfel landeten sanft auf dem Tisch, überschlugen sich noch einige Male und blieben dann liegen. Vier, fünf und sechs. Womit er bei zweiundzwanzig angelangt war. Der Abend versprach interessant zu werden; jedenfalls kam er um den Versuch einer Kontaktaufnahme schon nicht mehr herum. Als die Würfel zum dritten und letzten Mal auf das Tischtuch fielen, hielt er die Augen geschlossen. Er atmete tief durch und öffnete sie. Zweimal die Fünf und einmal die Sechs – achtunddreißig! Nun war es also doch passiert. Der schlimmste anzunehmende Zufall, der seine ganze Courage erforderte, der ihn mitten im Lokal bloßstellen, der ihm eine Abfuhr erster Güte und womöglich einen Rausschmiss einbringen würde. Wenn nicht sogar noch Übleres. Aber er hatte die Regeln geschaffen, um sie eisern einzuhalten, koste es, was es wolle. Das Leben war ein Spiel. Und gewinnen konnten nur jene, die auch bereit waren zu verlieren.
Er steckte die Würfel ein, nahm noch einen Schluck aus dem Weinglas, stand auf und ging hinüber zu der jungen Frau mit dem engen roten Kleid und den aufreizend langen Beinen. Er zog den Stuhl heran, auf dem vorhin die Freundin gesessen hatte, ließ sich darauf nieder und sah der Schönen ins Gesicht. Diese hob leicht irritiert und fragend die Augenbrauen.
»Ich möchte gerne mit Ihnen schlafen!«
Nun war es heraus. Nicht leise, sondern unmissverständlich und deutlich, aber doch nicht so laut, dass man es an den Nebentischen hätte hören können. Er hatte seinen Pakt mit den Würfeln eingehalten. Er war bereit, die Konsequenzen zu tragen. Niederschläge gehörten zum Spiel. Entscheidend war nur, dass man nicht am Boden liegen blieb, sondern immer wieder aufstand.
Die junge Frau sah auf seine Hände, die völlig ruhig auf dem Tisch lagen, und musterte kurz sein Gesicht.
»Das wollen viele.«
»Noch heute Abend!« Seine Stimme ließ kein Zittern erkennen.
Ein Lächeln umspielte ihre Lippen.
»Einverstanden, warum nicht?«
War das ihr Ernst? Ja, es schien ganz so. Unglaublich, wirklich unglaublich. Die Würfel machten Dinge möglich, an die man nicht im Traum geglaubt hätte. Man musste dem Glück eben seine Chance geben und auch aberwitzige Versuche wagen.
»Schön, das wäre geklärt. Aber wir sollten vorher noch unser Essen genießen, finden Sie nicht?«, fuhr er fort.
»Natürlich. Was halten Sie davon, wenn Sie mir dabei Gesellschaft leisten?«, erwiderte sie.
»Mit dem größten Vergnügen. Ich darf Sie selbstverständlich einladen.«
»Das ist ja wohl das Mindeste«, entgegnete die Blondine lachend.
Seine Hand glitt in die Jackentasche und liebkoste die elfenbeinernen Würfel. Das Leben war ein Spiel. Und er zählte zu den Gewinnern!
11
D er schwarze Cadillac fuhr von Padua kommend über die Landstraße Richtung Venedig. Während sich Alberto am Steuer auf den Verkehr konzentrierte, der direkt bei Padua noch sehr dicht gewesen war, jetzt aber deutlich nachließ, strich Alessandro im Fond der Limousine fast zärtlich über den ledernen Aktenkoffer, der neben ihm auf dem Sitz lag. Er war wieder einmal mit sich und der Welt zufrieden.
Der Ort Stra lag bereits hinter ihnen. Rechts neben der Straße war der parallel verlaufende Brenta-Kanal zu sehen. Im 12. Jahrhundert hatten die Paduaner diesen künstlichen Seitenarm der Brenta angelegt, der bei Fusina in der Lagune von Venedig endet. Kurz vor Stra zweigt er vom Hauptarm der Brenta ab, der viel weiter im Süden bei Chioggia ins Meer mündet. Mit Padua ist Stra durch den Canale Piovego verbunden. Auf diese Weise konnten Boote von Venedig über Stra bis nach Padua fahren, wo die Reise an der
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