Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Verdi hören und sterben: Ein Roman aus Venedig und dem Veneto (German Edition)

Verdi hören und sterben: Ein Roman aus Venedig und dem Veneto (German Edition)

Titel: Verdi hören und sterben: Ein Roman aus Venedig und dem Veneto (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Böckler
Vom Netzwerk:
waren. Zu seiner Überraschung waren sie ohne Begleitung geblieben. Ihm fiel auf, dass die Schwarzhaarige immer wieder nervös auf die Uhr sah.
    Natürlich würde er mit einem
Carpaccio alla Cipriani
beginnen, jenem hauchdünn geschnittenen rohen Rinderfilet mit einer feinen Salsa aus Mayonnaise, Worcestershiresauce, frisch gepresstem Zitronensaft, Milch und frischem Pfeffer. Auch dieses Gericht war eine Erfindung des legendären Giuseppe Cipriani. 1950 hatte er es für eine Contessa kreiert, der gerade vom Arzt Diät verordnet war. Benannt hatte er es nach dem Renaissancemaler Vittore Carpaccio, der eine Vorliebe für die Farbe Rot hatte. Eine ähnliche Leidenschaft konnte man bei der blonden Frau vermuten, die ein hautenges rotes Kleid trug. Keine Frage, sie sah verteufelt gut aus. Sie mochte vielleicht Anfang dreißig sein. Ihr Schmuck und dieses Restaurant ließen darauf schließen, dass sie nicht gerade zu den ärmeren Gesellschaftsschichten zählte.
    Nach dem Carpaccio würde er
Risotto di scampi
bestellen. Er liebte den feinen Safran- und Currygeschmack. Und das Flambieren mit Cognac auf die gute alte Art verlieh diesem Risotto eine besondere Note. Und danach? Vielleicht einen
Sampietro con pomodoro fresco
? Und zum Abschluss die göttlichen
Crespelle alla crema pasticciera
. Dazu eine Flasche Soave Classico La Rocca von Pieropan.
    Er legte die Speisekarte zur Seite, lehnte sich zurück und genoss die Atmosphäre im ersten Stock der Harry’s Bar. Die kleinen runden Tische, die zartgelben Decken, die gepolsterten Lederstühle, die Wände mit den lachsfarbenen Bezügen und den Schwarzweißfotos aus New York. Die überaus freundlichen Ober in ihren weißen Jacketts. Sein Blick richtete sich durch das linke Fenster auf San Giorgio Maggiore, geradeaus die Fassade der Basilika Le Zitelle und im rechten Fenster die Dogana di Mare. Die goldene Kugel und die Fortuna auf dem Turm der alten Zollstation reflektierten die untergehende Sonne. Dahinter die Kuppel der Barockkirche Santa Maria della Salute. Ausblicke wie Gemälde, und das alles von seinem Sitzplatz aus, wobei es genügte, den Kopf nur ganz leicht zu drehen.
    Seine rechte Hand fand wie von selbst den Weg in die Jackentasche und suchte die Würfel. Er liebte das einschmeichelnde Gefühl des alten Elfenbeins. Außerdem war es ausgesprochen beruhigend, die Würfel einzeln durch die Handflächen gleiten zu lassen.
    Jetzt sah die schwarzhaarige Frau erneut auf die Uhr. Erschrocken stand sie auf, gab ihrer Freundin einen Abschiedskuss und eilte davon. Die Blonde ließ sich nicht aus der Ruhe bringen und widmete sich mit Hingabe den Tortellini, die ihr gerade serviert worden waren. Seine Augen ruhten wohlgefällig auf ihren nackten Beinen, die sie unter dem Tisch entspannt übereinander gelegt hatte. Das rote Kleid war offenbar weit nach oben gerutscht. Leider verhinderte die Tischdecke einen intensiveren Blick auf diesen erotisch reizvollen Bereich. Die Frau legte die Gabel zur Seite und tupfte sich mit der Serviette die Lippen ab. Für einen kurzen Moment begegneten sich ihre Blicke. Ob das folgende leichte Lächeln real war oder nur seiner Phantasie entsprang, wusste er nicht zu sagen.
    Er spürte den Druck der Würfel. Ja, es galt, eine Entscheidung zu treffen. Und wieder einmal würde er diese den Würfeln überlassen. Nach kurzem Nachdenken kam er zu folgendem Schema: Wenn die addierte Augenzahl bei dreimaligem Würfeln unter zwanzig lag, würde er seelenruhig sein Abendessen genießen und die blonde Frau keines weiteren Blickes mehr würdigen. Zwischen zwanzig und achtundzwanzig würde er ihr vom Ober mit seinen besten Empfehlungen ein Glas Champagner servieren lassen und die weitere Entwicklung ohne jegliche neue Initiative abwarten. Bei einer Augenzahl von neunundzwanzig bis sechsunddreißig würde er bei nächster Gelegenheit aufstehen, zu der Frau an den Tisch gehen und fragen, ob sie das Abendessen nicht lieber in seiner Gesellschaft einnehmen möchte. Und um dem Spiel einen besonderen Nervenkitzel zu verleihen, sah er noch eine weitere Handlungsanweisung vor: Bei einer Augenzahl von über sechsunddreißig würde er sofort aufstehen, zu ihr an den Tisch gehen und ihr sagen, dass er mit ihr schlafen möchte. Über sechsunddreißig? Das war zwar bei dreimaligem Würfeln ziemlich unwahrscheinlich, aber immerhin im Bereich des Möglichen. Der Zufall konnte ihm also keine Feigheit vor dem Feind vorwerfen.
    Ein Ober kam an seinen Tisch und wechselte mit einer

Weitere Kostenlose Bücher