Verdi hören und sterben: Ein Roman aus Venedig und dem Veneto (German Edition)
getäuscht.
»Spielen Sie Bridge?«, fragte Mark mit noch immer geschlossenen Augen.
»Nein, und Sie?«
Mark fiel plötzlich auf, dass die alte Freundin seiner verstorbenen Großmutter eine verblüffend junge Stimme hatte. Warum hatte er das nicht gleich gemerkt? Aber es war ihm von jeher schwer gefallen, sich nach einem Nachmittagsnickerchen aus Morpheus’ Armen zu befreien – vor allem, wenn er unsachgemäß geweckt wurde.
»Ich hasse Bridge!«, antwortete Mark. Er beschloss, diese Laura Zanetti doch einmal kurz in Augenschein zu nehmen. Irgendwann musste er sich dieser Herausforderung sowieso stellen. Seine Großmutter hatte nun mal in ihrem Testament verfügt, dass diese Person bei ihm im Haus wohnen durfte. Gottlob gab es eine gänzlich separate Einliegerwohnung. Und er war ja von Rudolf bereits aufs Schlimmste vorbereitet worden. Ein rechtes Schreckgespenst musste diese Mitbewohnerin sein. Wenn da nur nicht diese Stimme wäre, die so gar nicht zu dem Bild einer alten Dame passen wollte.
Mark hielt sich eine Hand vor das Gesicht, öffnete die Augen und zog schließlich die Hand beherzt weg.
Als Nächstes stieß er mit dem Kopf gegen das Gestänge des Sonnenschirms. Gleichzeitig warf er fast die Karaffe mit dem Eistee um. Der Stuhl kippte bedrohlich. Mark stellte nur mit Mühe die Balance wieder her.
»Schauen Sie immer so intelligent aus der Wäsche?«, hörte Mark Laura fragen. Gott, hatte diese Frau ein bezauberndes Gesicht. Dagegen sahen seine Models aus wie gerade aus dem Aquarium gefischt. Dieser braune Teint, die kohlrabenschwarzen Haare, diese grünen Augen, die unverschämt weißen Zähne und dieses Grübchen … Was hatte er gleich wieder erwartet? Eine vertrocknete Zwetschge? Rudolf, dieser Gauner, hatte ihn wirklich voll reingelegt. Und Rechtsanwalt Dr. Leuttner hatte ihn dabei auch noch gedeckt. Advokaten konnte man also auch nicht mehr trauen.
»Wie sagten Sie doch gleich sei Ihr Name?«, wollte Mark auf Nummer Sicher gehen.
»Laura Zanetti. Ich lebe in der Einliegerwohnung. Das heißt, wenn es Ihnen recht ist, sonst ziehe ich selbstverständlich aus.«
»Um Gottes willen, nein!« Mark ruderte beschwörend mit den Händen. »Bleiben Sie, so lange Sie wollen!«
»Darf ich mich setzen?«
»Bitte, ja.« Mark nahm die Beine vom Gartenstuhl und machte eine einladende Bewegung. »Möchten Sie etwas Eistee?«
»Nein danke. Wann sind Sie angekommen?«
»Mitte letzter Woche. Ich habe Sie schon vermisst.«
»Das glaube ich Ihnen aufs Wort.«
»Doch, wirklich. Aber um ehrlich zu sein«, Mark räusperte sich, »ich dachte, Sie sind eine alte Dame, mit der meine Großmutter Bridge gespielt hat.«
»Und jetzt sind Sie enttäuscht.« Laura schlug die Beine übereinander und lächelte Mark an.
»Natürlich bin ich enttäuscht, geradezu entsetzt. Sie wissen, dass Ihnen meine Großmutter Wohnrecht auf Lebenszeit eingeräumt hat? Nun, bei einer alten Dame hätte sich dieses Privileg naturgemäß in biologischen Grenzen gehalten. Aber in Ihrem Fall kann das ja eine Ewigkeit dauern. So wie Sie aussehen, überleben sich mich vielleicht sogar.«
Marks Aufmerksamkeit wurde auf Lauras bloßen rechten Fuß gelenkt, der locker vor sich hin wippte. Er betrachtete ihre Knöchel, folgte dem Unterschenkel, verharrte kurz bei dem Knie – er hatte eine Schwäche für wohl geformte Kniescheiben. Der Oberschenkel – eine Augenweide. Das weite T-Shirt verhinderte eine genauere Begutachtung des Oberkörpers. Aber es gab keinen Grund zur Annahme, dass es hier schwerwiegende Beanstandungen geben könnte. Und dieser Halsansatz, einfach vortrefflich. Die dünne goldene Kette über der braunen Haut. Wirklich, seine Großmutter hatte es in jeglicher Hinsicht gut mit ihm gemeint.
»Sind Sie fertig?« Laura lächelte herausfordernd.
»Wie bitte? Womit?«
»Soll ich aufstehen und mich einmal langsam um die Achse drehen, damit Sie mich auch von hinten inspizieren können?«
»Nein, entschuldigen Sie bitte. Sie dürfen meinen Blick nicht falsch interpretieren.«
»Ich glaube nicht, dass man den falsch interpretieren kann.«
»Doch. Sie müssen wissen, ich bin ein Augenmensch …«
»Sind das nicht alle Männer? In Italien zumindest, da bin ich mir sicher, ist so gut wie jeder Mann ein Augenmensch – jedenfalls wenn es darum geht, eine Frau mit den Augen auszuziehen.«
Mark schüttelte in gespielter Verzweiflung den Kopf. »Aber ich bin Engländer, wir machen so etwas nicht. Unser Volk hält es in gewisser
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