Verdi hören und sterben: Ein Roman aus Venedig und dem Veneto (German Edition)
Weise immer noch mit den Moralvorstellungen der viktorianischen Zeit.«
»Das glauben Sie doch selbst nicht«, erwiderte Laura. »Aber ich weiß, dass Sie Modefotograf sind. Das entschuldigt Sie wenigstens ein klein wenig.«
»Ich danke Ihnen für Ihr Verständnis. Außerdem habe ich Sie nicht ausgezogen.«
»Nein, das wäre ja noch schöner. Übrigens hätte ich jetzt doch gerne etwas zu trinken.«
Mark sprang auf. »Bleiben Sie sitzen, ich hole Ihnen nur ein Glas und einen frischen Eistee aus dem Kühlschrank. Oder wollen Sie etwas anderes? Champagner vielleicht?«
»No, grazie, un tè freddo è perfetto.«
Einige Stunden später saßen Laura und Mark noch immer auf der Terrasse. Nachdem Laura zunächst etwas von sich erzählt und anschließend Mark nach seinem Leben befragt hatte, waren sie bald auf Großmutter Ottilia zu sprechen gekommen. Mark ließ sich ganz genau beschreiben, wie Laura seine Großmutter gefunden hatte. Sie stiegen gemeinsam zum Rosenbeet hinunter. Laura legte die Schallplatte mit den Verdi-Arien auf, die sich Ottilia an jenem verhängnisvollen Abend angehört hatte. Sie gingen zum Geländer und sahen auf den See hinaus. Mark erzählte von seinen Ferien als kleines Kind in diesem Haus. Laura schilderte die Beerdigung, die Mark verpasst hatte.
Schließlich sah Mark auf die Uhr. »Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht, aber ich habe einen tierischen Hunger. Was halten Sie davon, wenn ich Sie zum Essen einlade?«
Laura nickte. »Keine Einwände. Sagen wir in einer halben Stunde?«
»Sehr schön; kennen Sie das Ristorante Tre Camini an der Straße zwischen Costermano und Affi? Da war ich ab und zu mit meiner Großmutter.«
»Ich auch, und zwar in dem kleinen Raum gleich rechts im alten Haus am offenen Kamin, den hat Ihre Großmutter am liebsten gemocht. Reservieren Sie einen Tisch?«
»Mach ich, ja. Und nehmen Sie sich einen Pulli mit. Mein Verdeck ist kaputt, ich kann nur offen fahren.«
Es war bereits nach Mitternacht, als Mark und Laura sich auf den Heimweg machten. Bei einem Glas Prosecco hatten sie auf ihre »Wohngemeinschaft« angestoßen und das lästige »Sie« abgeschafft. An jenem kleinen Tisch am Fenster hatten sie gesessen, wo vom Balken alte Kupferkessel und Schöpflöffel hängen und man im Garten das Häuschen mit dem Grillfeuer sieht. Von den
Verdure crude in pinzimonio
hatten sie probiert; das rohe Gemüse mit Mayonnaise ist im Tre Camini als Auftakt obligatorisch.
Asparagi bianchi con salsa mimosa
hatten sie gegessen, köstliche
Gnocchi di patate al tartufo nero
und danach
Tagliata di controfiletto al rosmarino
, die im Tre Camini am offenen Grill zubereitet wird. Laura hatte einen Bardolino Classico superiore ausgewählt, jenen leichten, trockenen Rotwein, der unmittelbar aus dieser Region stammt. So vorzüglich das Essen auch gewesen war, so musste sich Mark doch eingestehen, dass die kulinarischen Genüsse an diesem Abend nur eine zweitrangige Bedeutung hatten. Während er vor Garda eine Abkürzung über Marciaga wählte und am Hotel Madrigale und am Golfplatz Ca’ degli Ulivi vorbeifuhr, dachte er darüber nach, dass diese Laura Zanetti ein Geschenk des Himmels war. Das war ihm noch nicht allzu oft passiert, dass er sich Hals über Kopf in eine Frau verliebt hatte. Um ehrlich zu sein, das war ihm noch nie passiert. Zwar konnte er sich schon immer spontan für weibliche Wesen begeistern – aber erstens waren damit meist ziemlich direkte Absichten verbunden, und zweitens hatte das mit Verliebtsein wenig zu tun. Doch diese Laura! Dass er sich ausgerechnet in eine Freundin seiner Großmutter verknallen würde, damit war ja nun wirklich nicht zu rechnen gewesen. Geistesabwesend bretterte Mark über eine Bodenschwelle, die er übersehen hatte. Der Roadster krachte ihnen ins Kreuz.
»Ein gut gefedertes Auto«, stellte Laura mit schmerzverzerrtem Gesicht fest.
»Sorry. Es gibt in England einen sehr zutreffenden Spruch: Im Morgan spürt man, wenn man über eine Geldmünze fährt …«
»Das glaube ich sofort«, warf Laura ein und langte sich an den Rücken.
»… ob Kopf oder Zahl oben ist«, brachte Mark seinen Satz zu Ende.
»Ich würde auf eine 100-Lire-Münze tippen. Ich habe ganz deutlich den Olivenbaum gespürt.«
Mark fuhr durch ein kleines Wäldchen, und sie kamen auf die Straße, auf der man von Garda nach Albisano gelangt. Am Ortseingang bogen sie nach links ab, wo die Serpentinen hinunter nach Torri del Benaco führen. Kurz vor dem Haus, das Mark
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