Verdi hören und sterben: Ein Roman aus Venedig und dem Veneto (German Edition)
lag einsam im Dunkeln. Wahrscheinlich war es weit nach Mitternacht. Er könnte einfach warten und auf ein Auto hoffen. Mark musste grinsen, als ihm bewusst wurde, dass er einem vorbeifahrenden Auto gar nicht zuwinken könnte. Außerdem war gegen einen kleinen Spaziergang nichts einzuwenden. Rechts oder links? Rechts! Schon nach wenigen Schritten hörte er von hinten ein Auto kommen. Sein erster Reflex war, sich sofort zu verstecken. Aber der hochdrehende Motor klang so gar nicht nach einem Transporter. Seine Entführer hatten es sich also doch nicht anders überlegt. Mark blieb am Straßenrand stehen und beobachtete die sich nähernden Scheinwerfer. Der Wagen, ein alter Fiat 600, blieb neben ihm stehen, machte einen kurzen Satz, dann war der Motor abgestorben. Das Beifahrerfenster wurde heruntergedreht.
»Buona sera. Ma, Santo Cielo, figliolo, si può sapere che cosa ci fai in un posto come questo a un’ora così tarda? Posso aiutarti?«
Mark spähte ins Auto. Da saß doch tatsächlich ein älterer Geistlicher hinter dem Steuer. Im vollen Ornat – oder wie man dazu sagt.
»Buona notte, Monsignore, parla tedesco o inglese?«, fragte Mark zurück.
»Etwas Deutsch, sì. Mein Name ist Fra’ Girolamo, kann ich helfen?«
»Ja, das können Sie. Sie werden es nicht glauben, aber ich bin entführt und gerade erst vor wenigen Minuten freigelassen worden.«
»Entführt?«, sprach Fra’ Girolamo bedächtig das ihm unbekannte Wort nach. »Che cos’ è? Was heißt das?«
Mark drehte sich um und zeigte dem Pastor die gefesselten Hände. »Entführt, Kidnapping, verstehen Sie?«
Der Pastor hielt kurz voller Entsetzen die rechte Hand vor den Mund. »Entführt, ah, adesso ho capito, un rapimento. Das ist doch nicht möglich. Was gibt es doch für Sünde auf dieser Welt. Aspetta, mein Sohn.«
Fra’ Girolamo wuchtete seinen massigen Körper aus dem kleinen Fiat, langte in die Kutte und hatte plötzlich ein großes Taschenmesser in der Hand. Als er Marks verblüfftes Gesicht sah, lachte er. »Wir sind hier nicht im Vatikan. Und in campagna ist ein Messer wichtig.« Er klappte es auf und deutete auf die Obstbäume am Straßenrand. »Zum Beispiel, um von den Früchten des Herrn zu ernten und sie zu schälen. Oder um in christlicher Nächstenliebe einen armen Menschen von seinen Fesseln zu befreien.«
Mit zwei schnellen Schnitten trennte Fra’ Girolamo die Schnüre durch. Erleichtert massierte Mark die blutleeren und tauben Hände.
»Und jetzt bringe ich Sie zur Polizei. Non è lontano. In zehn Minuten sind wir in Marostica, da bin ich zu Hause. Steigen Sie ein, mein Lieber. Auf der Fahrt können Sie mir erzählen, was passiert ist.«
Als Fra’ Girolamo den altersschwachen Fiat nach einigen Versuchen und frommen Aufmunterungen wieder zum Leben erweckt und in Bewegung versetzt hatte, schilderte Mark in Kurzform sein erlittenes Schicksal. Sobald er fertig war, küsste Fra’ Girolamo das silberne Kreuz, das ihm um den Hals hing. Dann ließ er zu Marks Schrecken das Steuer für einen Augenblick gänzlich los, faltete die Hände und schickte ein kurzes Dankgebet gegen die vergilbte Fahrzeugdecke.
»Warum sind Sie eigentlich zu so später Stunde noch unterwegs?«, fragte Mark, als die gefährliche Situation heil überstanden war.
»Im Dienste des Herrn. Un’ estrema unzione, eine Letzte Ölung. In einem Dorf nicht weit von hier.« Fra’ Girolamo bekreuzigte sich. »In nome del Padre, del Figlio e dello Spirito Santo. Amen. Gott sei ihrer armen Seele gnädig. Aber die gute alte Clara, sie war bereits fünfundneunzig Jahre alt. Da ist der Tod eine Erlösung.«
Der Gedanke an eine Letzte Ölung ließ Mark einen kalten Schauder über den Rücken laufen. Am Straßenrand tauchte das Ortsschild von Marostica auf. Fra’ Girolamo fuhr noch ein Stück geradeaus, es folgte ein kleiner Kreisel, schließlich bog er rechts in die Via Roma ab, und es ging an einer langen Mauer mit einem Gitter vorbei. Mark sah bereits das beleuchtete Schild
Carabinieri
. Fra’ Girolamo fuhr an den linken Straßenrand und kam kurz nach einer Telefonzelle zum Stehen. Das Auto machte noch einen kurzen Satz, dann war der Motor wieder abgestorben.
»Wir hätten auch zur Questura fahren können, aber ich glaube, bei einer Entführung sind die Carabinieri zuständig. Ist ja auch egal. Jedenfalls sind Sie hier in guten Händen.«
Mark warf einen Blick durch das große schmiedeeiserne Tor auf eine gepflegte Villa mit einer kleinen Anfahrt, einer
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