Verdi hören und sterben: Ein Roman aus Venedig und dem Veneto (German Edition)
nicht hatte. Mein Vater war als Maler in England nicht unbekannt. Seine Bilder sind bis heute unter Sammlern sehr gefragt und mittlerweile ausgesprochen teuer. Leider besitze ich von ihm kein einziges Gemälde, nur einige wenige Grafiken und Skizzen. Ich kann mich noch gut erinnern, wie Patrizias Selbstmord meinen Vater aus der Bahn geworfen hat. Er hat nie mehr einen Pinsel angerührt.«
»Du sagtest, mit Geld, das sie eigentlich nicht hatte?«
»Ja, ganz offenbar hat Patrizia Bilder meines Vaters zu Geld gemacht, um Rudolf zu helfen. Als mein Vater das bemerkt hat, ist es zum ersten großen Streit zwischen meinen Eltern gekommen. Aber die Liebe einer Mutter zu ihrem Sohn, selbst wenn er so missraten ist wie Rudolf, stand offenbar über allem.«
»Das ist wohl so. Auch meine Mutter würde für ihre Söhne ihr letztes Hemd geben.«
»Du hast Brüder?«
Laura lächelte. »Diese Tatsache habe ich dir gegenüber schon einmal erwähnt, ja. Du wirst sie sicher mal kennen lernen. Kommst du eigentlich auch in den Briefen vor?«
»Natürlich, aber primär dreht sich alles um Rudolf.«
»Nun sag schon, wie kommst du dabei weg?«
»Das ist mir fast peinlich zu lesen. Von mir hat sie immer nur in den höchsten Tönen geschwärmt. Ich war anscheinend ihr ganzes Glück auf Erden, ich habe das nie so empfunden. Aber bei allem Kummer liebte sie Rudolf offenbar nicht minder.«
»Mütter haben sogar zu ihren Sorgenkindern oft eine besonders enge Beziehung«, stellte Laura fest. »Es ist fast so, als ob sie sich mitschuldig fühlen würden, weil sie glauben, in der Erziehung etwas falsch gemacht oder ihnen die falschen Gene vererbt zu haben.«
»Also, im Falle von Rudolf müssen die Gene ganz schön durcheinander geraten sein. Er ist nämlich ganz offenbar nicht nur ein hemmungsloser Glücksspieler, einer, der – wie Patrizia schreibt – sein ganzes Leben als ein einziges Spiel begreift, sondern er verfügt zudem über ein hohes Maß an Skrupellosigkeit und Gewaltbereitschaft. In einem Brief erzählt Patrizia eine bezeichnende Geschichte aus Rudolfs Kindheit. Moment mal, wo habe ich ihn denn?«
Mark suchte in den Briefen neben sich auf dem Boden, fischte einen heraus, räusperte sich und las vor: »›Es war an einem sommerlichen Nachmittag. Ich beobachtete den kleinen Rudolf – er war damals neun Jahre alt – aus dem Küchenfenster. Rudolf saß auf dem Steinfußboden der Terrasse. Sein blondes Haar schimmerte in der Sonne. Hübsch war er anzusehen, sein Anblick stimmte mich froh und glücklich. Rudolf hatte im nahen Weiher einen Frosch gefangen, den er an den Schenkeln festhielt. Ich dachte, er spiele mit dem Frosch. Das tat er auch, aber auf seine ganz persönliche Art. Ich sah, wie er mit der freien Hand drei Würfel über den Boden purzeln ließ. Ohne den Frosch loszulassen, beugte er sich über die Würfel, um die Zahlen zu lesen. Ich sah ihn lächeln. Dann nahm er einen großen Hammer, der neben ihm lag und den ich vorher nicht bemerkt hatte, und tötete den Frosch mit drei kräftigen Hammerschlägen …‹«
Laura sah Mark entsetzt an. »Wie ekelhaft.«
Mark ließ den Brief zu Boden gleiten. »Ein Herzchen, was? Hinter der Fassade des erfolgreichen Weinhändlers und Lebemanns verbirgt sich ein kleines Monster. Um die Geschichte der Briefe fertig zu erzählen, etwa zwei Monate vor Patrizias Tod muss sich Rudolf erneut in einer finanziellen Notsituation befunden haben. Er war bei Patrizia in London aufgetaucht und hatte geweint, gefleht, mit seinem Selbstmord gedroht. Patrizia hat Rudolfs Drängen in ihren letzten Briefen an Ottilia ausführlich geschildert. Und sie hat auch ihre Gewissensnöte beschrieben. Hinzu kam, dass mein Vater wegen eines leichten Herzinfarkts in die Klinik musste. Patrizia war völlig verzweifelt, mit den Nerven am Ende. In ihrem letzten Brief gibt sie einen Hinweis darauf, was passiert sein könnte.«
Mark nahm den Brief zur Hand, den er vorhin gelesen hatte, als Laura den Tee holte.
»›Liebe Mutter, ich hoffe, es geht dir gut und dein Schnupfen ist abgeklungen. Blühen die Lilien schon? Ich bin so glücklich für dich, dass du am Gardasee dein Paradies gefunden hast. Du hast mir geschrieben, dass es ein großer Fehler sei, Rudolf immer wieder aus der Patsche zu helfen. Dass ich diesmal hart bleiben solle. Und du glaubst, dass sich Rudolf nichts antue, da könne ich unbesorgt sein. Liebe Mutter, sicher hast du Recht, und ich bin dir so dankbar für deine einfühlsamen Briefe.
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