Verdi hören und sterben: Ein Roman aus Venedig und dem Veneto (German Edition)
Wahrscheinlich gab es einen Abschiedsbrief, von dem ich nichts weiß. Vermutlich hat sie Patrick alles gebeichtet und die Schuld auf sich genommen. Mein Vater wird dies sozusagen als ihren Letzten Willen respektiert und deshalb Rudolf nicht zur Rechenschaft gezogen haben.«
»Hat dein Vater nie mit dir darüber geredet?«
»Nein, hat er nicht. Nach dem Tod meiner Mutter war er ein gebrochener Mann. Er hat fast überhaupt nicht mehr gesprochen, auch nicht mit mir. Und er hat kein einziges Bild mehr gemalt.«
Laura stand auf und reichte Mark, der sich bereitwillig hochziehen ließ, die Hand. Still umarmten sie sich. Wenig später saßen sie auf der Terrasse im Schatten des großen Marktschirms. Mark hatte die Hände über dem Kopf verschränkt und sah hinaus auf den See. Einige dunkle Wolken hatten sich im Süden zusammengebraut. Die warme Luft lastete schwül und ohne einen Windhauch auf dem Land. Es waren kaum Geräusche zu hören.
»Spürst du die Ruhe vor dem Sturm?«, sagte Mark.
»Ja, es wird ein Gewitter geben. Die Ruhe vor dem Sturm? Meinst du das auch im übertragenen Sinne?«
»Könnte sein, ja. Oder besser nein, denn welchen Sturm wollen wir entfachen?«
»Einen Sturm, der deinen lieben Bruder hinwegfegt, ihn für all seine Sünden büßen lässt«, antwortete Laura.
»Wenn es denn so einfach wäre. Betrachten wir doch den Fall mal ganz nüchtern. Was wissen wir? Was können wir beweisen? Dass Rudolf meine Entführung in Auftrag gegeben hat? Das wissen wir nicht, wir glauben es nur zu wissen! Dass Rudolf Alessandro ermordet hat? Das können wir nicht beweisen, das ist nur so ein Verdacht von uns. Dass Rudolf meine Mutter in den Selbstmord getrieben hat? Das wird wohl so gewesen sein, ist aber nicht strafbar. Dass Rudolf meinen Vater um seine Bilder betrogen und diese zu Geld gemacht hat? Nachdem Patrick nie etwas gesagt oder gar Anzeige erstattet hat, bleibt auch das im Dunkeln. Dass Rudolf ein Spieler ist, ein Zocker, der sich einen Dreck um das Schicksal anderer Menschen schert, nun, davon können wir ausgehen, aber welches Gericht dieser Welt würde ihn dafür verurteilen?«
»Das kann doch wohl nicht wahr sein. Rudolf ist ein Schwein, er hat deine Mutter auf dem Gewissen, er hat Ottilias Testament mit den Füßen getreten und seinen Bruder entführen lassen. Das ist doch wohl schlimm genug, dafür muss er büßen.« Lauras Stimme klang heiser.
»Das soll er auch, ich verspreche es«, sagte Mark mit so ernstem Gesicht, wie es Laura noch nie gesehen hatte. »Aber ich werde nichts überstürzen. Und auf die Mithilfe der Polizei kann ich vorläufig verzichten, sie hat ohnehin bislang nichts Vernünftiges zu Stande gebracht.«
Mark ergriff Lauras Arm. »Versprich mir, dass du nichts der Polizei sagst. Ich will Rudolfs Spiel noch etwas mitspielen. Wir haben Zeit. Er wiegt sich doch jetzt in totaler Sicherheit. Ich möchte ihn besser kennen lernen, ich will nachdenken, ich will nach London fahren und versuchen, mehr über den Selbstmord meiner Mutter zu erfahren. Vielleicht kann man auch feststellen, wann und wo und vor allem von wem die verschwundenen Bilder meines Vaters verkauft wurden. Und um wie viele Bilder es sich tatsächlich gehandelt hat. Dann werden wir weitersehen. Rudolf läuft uns nicht davon.«
»Und was ist mit dem Lösegeld?«
»Wenn es etwas gibt, das mir derzeit völlig egal ist, dann ist es dieses Geld, das kannst du mir glauben. Ich möchte herausfinden, was Rudolf unserer Familie angetan hat – und dann will ich ihn dafür zur Rechenschaft ziehen.«
Laura streichelte Marks Hand. »Darf ich dir dabei helfen?«
»Natürlich darfst du das, mehr noch, ohne dich schaffe ich es sicher nicht. Ich brauche dich.«
»Nur dafür?«
Sie freute sich, als sie zum ersten Mal an diesem Nachmittag wieder Marks typisches Schmunzeln entdeckte.
»Mir ist entfallen, wofür man dich sonst noch brauchen kann.«
»Ich werde dir bei Gelegenheit einige Anregungen geben.«
Mittlerweile waren die Gewitterwolken näher gekommen, die ersten Böen fegten vom See heran. Mark gab Laura einen Kuss, klappte den Sonnenschirm zu und brachte die Sitzkissen in Sicherheit.
In dieser Nacht schlief Mark tief und fest, fast so, als hätten ihn die Entdeckungen und Überlegungen des Tages erschöpft. Er hatte sich eng an Laura geschmiegt und atmete gleichmäßig. Laura dagegen lag lange wach und sah an die Zimmerdecke. Ja, sie würde ihm mit Rudolf helfen. Aber Mark benötigte entschieden mehr Hilfe, als er
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