Verdi hören und sterben: Ein Roman aus Venedig und dem Veneto (German Edition)
wirkte, depressiv. Tatsächlich war das Bild ja nur wenige Monate vor ihrem Selbstmord entstanden. Hätte man damals erkennen können, dass sie ihrem Leben ein Ende setzen würde? Nein! Rudolf war fest davon überzeugt, dass kein Mensch damit rechnen konnte. Nein, wirklich nicht.
Er stellte das Whiskyglas auf den Boden und neigte den Kopf leicht zur Seite. Warum hatte ihm seine Großmutter genau dieses Bild vererbt? Verbarg sich dahinter eine Botschaft? Er glaubte es nicht, wollte es nicht glauben. Was hatte seine Großmutter schon gewusst? Nichts, absolut nichts! In ihren Augen war der Tod seiner Mutter eine unvorhersehbare Tragödie gewesen. Eine Tragödie, für die es keinen rationalen Grund gab, die einzig in ihrer Psyche begründet lag.
Ihm fiel Marks Besuch vor einer guten Woche ein und wie ihn die unvermittelte Frage nach ihrer Mutter aufgeregt hatte. Mark konnte leicht erzählen, dass er oft an sie denken musste. Für ihn war das ja auch einfach. Die sentimentalen Regungen eines geliebten Sohns, wie rührend. Er dagegen sträubte sich, an seine Mutter zu denken. Sie war tot, das Leben ging weiter!
Rudolf stand abrupt auf und trat einige Schritte nach links. Ein erneuter Blick zum Bild ließ ihn erschaudern. Seine Mutter war ihm mit den Augen durchs Zimmer gefolgt. Lag da ein Vorwurf in ihrem Blick? Er umklammerte seine linke Faust mit der rechten Hand. Dabei drückte er unwillkürlich so fest zu, dass die Fingergelenke knackten.
Er kehrte zum Stuhl zurück und stellte ihn an seinen angestammten Platz in die rechte Ecke des Raums. Mit dem leeren Whiskyglas in der Hand wendete er sich wieder dem Bild zu. Erneut sah ihm seine Mutter direkt in die Augen. Rudolf fühlte den Schweiß auf seiner Stirn. Er glaubte nicht an übersinnliche Mätzchen. Eher schon an einen geschickten Umgang mit dem Malpinsel. Hieß es denn nicht auch von der Mona Lisa, dass sie dem Betrachter mit den Augen folge? Aber irritierend war dieser Effekt gleichwohl. Und er hatte nicht vor, sich von seiner Mutter tyrannisieren zu lassen. Wenn es das war, was Großmutter Ottilia mit dem Bild bewirken wollte, dann hatte sie sich getäuscht. Seine Mutter war tot. Und das würde sie auch bleiben! Entschlossen drehte Rudolf den Rahmen mit dem Bild zur Wand. So, jetzt war ihm wohler. Was nur sollte er mit dem Porträt seiner Mutter anfangen? Es an die Wand hängen, nein, das wusste er von Anfang an, das konnte er nicht. Am besten wäre es, das Bild in den Keller zu verdammen. Gut verpackt und verschnürt, in einem verborgenen Winkel verstaut, dort, wo er es nie mehr finden würde – außer er suchte danach. Bislang hatte es ihm am erforderlichen Mut gefehlt. Aber wenn ihn seine Mutter noch einmal so vorwurfsvoll ansehen würde, dann hatte sie es nicht besser verdient!
41
A ls Laura die Villa am Gardasee betrat, erschrak sie, hörte sie doch eine Arie von Ottilia Balkows Lieblingsplatte, der Platte, die sich die alte Dame auch in jener verhängnisvollen Nacht angehört hatte. Plötzlich war es ihr, als ob Ottilia noch am Leben wäre. Sie glaubte den Duft ihres schweren, süßlichen Parfums zu riechen. Und wäre sie jetzt die Treppe heruntergekommen, in einem langen weißen Seidenkleid, die grauen Haare hochgesteckt und mit einer Hand den Takt der Musik begleitend, Laura wäre nicht überrascht gewesen. Aber Ottilia kam nicht, konnte nicht kommen, sie lag auf dem Friedhof der Chiesa della Beata Vergine.
Laura stellte ihren Einkaufskorb ab und trat in den Salon, wo sie Mark am Boden sitzend vorfand, vor ihm ein offener Schuhkarton, daneben ein verstaubter Deckel. Um ihn herum waren Briefe auf dem Perserteppich verstreut.
»Ciao Laura, come stai?« Marks Gruß wirkte geistesabwesend.
Laura ging zum Plattenspieler und stellte die Lautstärke runter. Erst dann kniete sie sich zu Mark auf den Boden und gab ihm einen Kuss.
Laura nahm einen Umschlag in die Hand. »Was treibst du denn hier? Hast du auf dem Speicher alte Liebesbriefe von Ottilia entdeckt?«
»Keine Liebesbriefe, nein, aber sehr aufschlussreiche, traurig stimmende Briefe. Sie sind erschreckend, geradezu bestürzend.«
»Von wem sind diese Briefe?«
»Sie stammen alle von meiner Mutter Patrizia und sind an Ottilia gerichtet. Meine Mutter hat darin in den letzten beiden Jahren vor ihrem Selbstmord Grandma Ottilia ihr Herz ausgeschüttet, von ihren Sorgen erzählt, von ihren psychischen Krisen. Aber nicht nur davon.« Mark hielt inne und schluckte.
»Erzähl schon!«
»Gleich,
Weitere Kostenlose Bücher